Zusammenhänge zwischen Rassismus, heterosexueller Gewalt und Umweltzerstörung am Beispiel indigener Mayas in Mexiko
Interview mit Maya-Aktivist*in Rub Solís
Hallo, Rub! Bevor wir tief ins Thema einsteigen, möchten wir Sie fragen: Was sind Ihre Gedanken zum Begriff „indigen“?
Es gibt viele Debatten über den Begriff "indigen" und die damit verbundene koloniale und instrumentalistische Aufladung durch hegemoniale Diskurse. Aber es ist wichtig zu erwähnen, dass diese Interpretationen vom Ort der Äußerung abhängen. Die Maya-Gemeinschaften der Halbinsel Yucatán in Mexiko zum Beispiel verwenden die Selbstbezeichnung "Pueblos originarios" oder einfach „Maya-Völker“ als eine Möglichkeit ihre, unsere Abstammung zurückzufordern.
Aus Ihrer Erfahrung als indigene*r Maya und geschlechtlich nicht-binäre Person, warum kann Rassismus nicht von heterosexueller Unterdrückung getrennt werden?
Ich bin der Ansicht, dass Rassismus und heterosexuelle Unterdrückung im Fall der Maya-Völker auf dieselben kolonialen Wurzeln und die vielfältigen Formen der Gewalt zurückgehen, die aus dieser Zeit bis in unsere heutigen Gesellschaften hineinwirken. Dies zeigt sich in Versklavungs- und Enteignungspraktiken gegen die Maya-Bevölkerung sowohl auf der Halbinsel Yucatán als auch in Chiapas (Mexiko), die von der weißen mexikanischen Bevölkerung z.B. in Form von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und Landnahme in den neuen mexikanischen Staat übernommen wurden. Die zahlreichen Maya-Revolutionen wie die Guerra de Castas (1847-1902) und der bewaffnete Aufstand des Ejército Zapatista de Liberación Nacional-EZLN (1994) gegen das sklavenhalterische, rassistische und heterosexistische Unterdrückungssystem der Haziendas (Landgüter) sind kein Zufall.
Die genannten Maya-Revolutionen haben autonome und autarke Gesellschaften hervorgebracht, die mit der Pflege und Verteidigung des angestammten Territoriums, aller Lebensformen und der lebensnotwendigen Ressourcen (Wasser, Luft) verbunden sind – und das mit ihren jeweiligen spirituellen Beziehungen, die in diese Pflege eingebettet sind, um das kosmische Gleichgewicht zu erhalten.
Dieses System verherrlicht die Rolle des heterosexuellen (weißen) cis-geschlechtlichen Mannes in der Gesellschaft und stellt diesen über jede andere Geschlechtsidentitätskonfiguration.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den es zu erwähnen gilt, ist der soziale und historische Hintergrund eines Großteils der heterosexistischen Gewalt, die in den heutigen ländlichen Maya-Gemeinschaften erlebt wird. Dieses System verherrlicht die Rolle des heterosexuellen (weißen) cis-geschlechtlichen Mannes in der Gesellschaft und stellt diesen über jede andere Geschlechtsidentitätskonfiguration, einschließlich über Maya-Transfrauen, sowie sexuelle Dissident*innen – also Menschen, die sich seit den Jahrhunderten der iberischen Invasion der auferlegten männlich-weiblichen Binärität widersetzen.
Könnten Sie uns mehr darüber erzählen?
Es gibt sowohl archäologische als auch anthropologische Beweise für die vielfältigen aktiven Rollen von Frauen und Geschlechtsdissident*innen in den Maya-Zivilisationen (250-900 n. Chr.) sowie in zapatistischen Maya Gemeinschaften im Südosten Mexikos. Wie ich in einigen Veröffentlichungen erörtert habe, lässt sich aus jedem historischen oder zeitgenössischen Ansatz heraus die Existenz mehrerer Maya-Geschlechtsidentitäten nachweisen. Diese haben unterschiedliche Bedeutungen, die sich von einer Maya-Gruppe zur anderen ändern, und es ist unmöglich, sie auf eine allumfassende Kategorie zu reduzieren.
Was sind die Herausforderungen im aktuellen Kontext der Maya-Völker in Mexiko im Kampf gegen Rassismus und Umweltzerstörung?
Wir sehen einen Vormarsch rassistischer, neoliberaler und kolonialistischer Megaprojekte, wie im Falle des umstrittenen Bauprojekts “Maya-Zug”. Dabei wurden und werden immer noch archäologische Stätten der Maya-Zivilisationen und Küstenorte an der Karibik durch eine Zugstrecke miteinander verbunden – trotz massiver Umweltzerstörung, Missachtung indigener Rechte und baulicher Bedenken. In diesen Gebieten gibt es größere indigene Widerstände, doch sowohl der mexikanische Staat mit Hilfe der Armee als auch das organisierte Verbrechen üben gewaltvoll Druck aus, um ihre Interessen und die der beteiligten nationalen und internationalen Unternehmen zu verteidigen. So berichten beispielsweise die Maya-Völker der Halbinsel Yucatán und die zapatistischen Gemeinden in Chiapas von einer spürbaren Zunahme der Gewalt in ihren Regionen durch oben genannte Akteure.
Einher damit geht ein auf Massentourismus basierendes Entwicklungsmodell, das sie in der Region durchsetzen wollen. Zu befürchten sind neben der massiven Zerstörung großer Dschungelgebiete, der Meeresfauna und des sozialen Gefüges der lokalen Gemeinden, ein Anstieg der potenziellen Massendrogenkonsumenten und eine daraus resultierende Gewalt durch kriminelle Gruppen, die sich um die Vormachtstellung in diesen Touristengebieten streiten.
Welche Verantwortung hat Deutschland in diesem Zusammenhang aus Ihrer Sicht? Im Falle des “Maya-Zuges" ist ja auch eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn beteiligt.
Die Verantwortung sowohl Deutschlands als auch Europas im Allgemeinen und seiner Bürger*innen geht in mehrere Richtungen. Einerseits gibt es die multinationalen Unternehmen mit europäischem Kapital oder mit einer steuerlichen Basis in einem europäischen Land, die zerstörerische Megaprojekte in unseren Regionen fördern und mitfinanzieren. Andererseits gibt es die Massentourist*innen aus verschiedenen EU-Ländern, die konsumieren, feiern und in kleinerem Umfang mit ihren (Pauschal-)Reisen in die mexikanische Karibik die Maschinerie sowohl des Massentourismus als auch der lokalen Gentrifizierung mitfinanzieren. Und das ist ironisch, da sich die Tourist*innen besonders darüber in ihren eigenen europäischen Städten so sehr beklagen.
Es sind gewalttätige Zeiten in der Region und angesichts dessen sind besonders Frauen und alle geschlechtsspezifischen Maya-Dissident*innen die verletzlichsten Gruppen.
Welche Rolle spielen die geschlechtsspezifischen Identitäten der Maya-Dissident*innen heute im Kampf gegen Rassismus und gegen die, mit Megaprojekten einhergehende, Umweltzerstörung?
Es gibt eine Rolle der aktiven Teilnahme und die Notwendigkeit der Fürsorge. Es sind gewalttätige Zeiten in der Region und angesichts dessen sind besonders Frauen und alle geschlechtsspezifischen Maya-Dissident*innen die verletzlichsten Gruppen. Dies lähmt uns nicht, aber es macht uns bewusst, dass wir uns selbst und den Menschen um uns herum mehr Fürsorge widmen müssen – ohne dass dies bedeutet, dass unsere Präsenz in den Kämpfen um das Territorium wieder ausgelöscht werden muss.
Ich glaube, dass eine Übung in queerer Selbstkritik darin besteht, die zunehmende Komplexität und Vielfalt der sexuellen und geschlechtlichen Dissidenzen, die die zeitgenössische europäische Szene bevölkern, sichtbar zu machen.
Wie ist Ihr Blick als Maya-Migrant*in auf Queer Studies in Europa? Und wie könnte mensch sich in Hinblick auf das Erstarken der extremen Rechten in Europa effektiv organisieren?
Ich war Teil einer Forschungsgruppe zu Sexualitäten in Portugal (2020-2023), die sich aus queeren Akademiker*innen aus Südeuropa und einigen aus Lateinamerika zusammensetzte, oder aus dem, was man als Europa der Peripherien bezeichnet, die nicht unbedingt im geografischen Süden liegen, manchmal auch nicht epistemisch. Aus dieser Erfahrung heraus glaube ich, dass die europäischen Gesellschaften der Gegenwart noch einen weiten Weg in Bezug auf die Vielfalt von Geschlecht und Gender vor sich haben – vor allem jetzt, wo die extreme Rechte in die europäischen politischen Szenen zurückkehrt.
Daher sind queere Studien und Aktivismus in diesen Zeiten notwendig und wichtig, ohne jedoch die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass das hetero-cis-patriarchalische System, das sie unterdrückt, auch ein rassistisches, klassenbezogenes und fremdenfeindliches cis-System ist, und ebenso gewalttätig gegenüber Einwanderer*innen sowie Europäer*innen of Colour/ BIPOC ist. Betroffen sind auch Menschen aus ländlichen Gegenden, neben anderen Bevölkerungsschichten, deren Geschichte und Prozesse des Kampfes und Widerstands in den überwiegend weißen und urbanen queeren Makronarrativen, die viele Universitäts- und Aktivismusräume auf dem Kontinent besetzen, ebenfalls ausgeblendet werden. Ich glaube, dass eine Übung in queerer Selbstkritik darin besteht, die zunehmende Komplexität und Vielfalt der sexuellen und geschlechtlichen Dissidenzen, die die zeitgenössische europäische Szene bevölkern, sichtbar zu machen.
Internationale Partnerschaften sind notwendig, aber sie müssen horizontal, selbstkritisch und mit größtmöglicher Sorgfalt erfolgen.
Welche Kritik üben Sie an queerem Aktivismus in Europa und was braucht es aus Ihrer Perspektive für mehr Sichtbarkeit?
Kritik äußere ich, wenn queere Aktivist*innen oder Intellektuelle sich in nicht-westliche Regionen begeben oder dorthin, wo sich das westlich-koloniale Projekt nicht als einziges durchgesetzt hat, und versuchen, eine bestimmte Weltsicht und bestimmte Analysekategorien einer europäischen oder europäisierten Realität Anderen überzustülpen. Ihr Aktivismus und ihre Interventionen können dann sehr problematisch und sogar schädlich für die lokale geschlechtsspezifische Bevölkerung werden, vor allem, wenn es an angemessener Sorgfalt, Selbstkritik und ethischen Protokollen fehlt. Internationale Partnerschaften sind notwendig, aber sie müssen horizontal, selbstkritisch und mit größtmöglicher Sorgfalt erfolgen.
Daher ist es wichtig, dass geschlechtsspezifische Dissident*innen aus verschiedenen indigenen Völkern und systematisch unterdrückten Identitätskonfigurationen die Räume der intellektuellen Anfechtung besetzen, damit unsere Stimmen in allen Sprachen gehört werden und unsere Geschichte nie wieder ausgelöscht wird.
Das Interview führte Carolina Caicedo.