Nachgefragt!
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#12

Thi Minh Huyen Nguyen ist freie Autorin, studiert im Master Medienwissenschaften und co-gründete die Laufgruppe Wayv Run Kollektiv um BIPoC* (inklusive queer, trans, inter, disabled) Menschen zu empowern. Weiterhin ist sie Teil von anti-rassistischen Initiativen wie ichbinkeinvirus.org und intersektionalen Räumen wie BIWOC* Rising.

Victoria Kure-Wu konzipiert als User Experience Designer Websites und Apps in Berlin und weiß, dass diverse Teams zu besseren und nachhaltigeren Ergebnissen kommen. Sie ist Initiatorin von www.ichbinkeinvirus.org und engagiert sich für Bildungsgerechtigkeit bei www.schuelerpaten-deutschland.de.

Wir wollen unsere eigenen Geschichten erzählen

Interview mit Thi Minh Huyen Nguyen und Victoria Kure-Wu

Menschen, denen eine asiatische Herkunft zugeschrieben wird, werden zurzeit oftmals rassistisch angefeindet. Warum ist es wichtig, das zu thematisieren?

Huyen Es ist wichtig, Diskriminierungen und insbesondere rassistische Attacken sowohl auf struktureller Ebene als auch auf persönlicher Ebene zu dokumentieren und zu benennen. Marginalisierte Menschen haben eine ganz andere Lebensrealität und sind alltäglich verschiedenen Mächten ausgesetzt. Während der Corona Pandemie haben wir [hier spreche ich nicht allumfassend für unsere asiatisch-deutsche Community, sondern für meine Familie / mich / meinen engen Freund*innenkreis] verstärkt anti-asiatischen Rassismus erlebt und das muss [nicht nur jetzt] angesprochen werden. Wie können die Politiker*innen als auch die weißen Mitbürger*innen Verantwortung übernehmen und Teil einer Zukunft sein, neue Strukturen zu verwirklichen, indem asiatische Menschen [inklusive disabled / trans / queer / inter] auf allen Ebenen respektiert werden? [Und nicht nur, wenn es der weißen Mehrheitsgesellschaft passt.]

Rassistische Positionen scheinen in unserer Gesellschaft wieder stärker zu werden. Welche Ansätze zur Sensibilisierung für Rassismus verfolgt ihr?

Huyen Unser Projekt Ichbinkeinvirus.org soll Erfahrungsberichte sichtbar machen und den Austausch zwischen Betroffenen, Aktivist*innen und Beratungsstellen erleichtern. Die Idee wurde beim Hackathon #wirvsvirus der Bundesregierung im März von meiner Kollegin Victoria Kure-Wu eingereicht. Es war das Einzige von mehr als 1500 Projekten, das Rassismus in Zeiten von Corona behandelt hat.

Korientation e. V. hat Beispiele von medialer Berichterstattung gesammelt, die „Corona-Rassismus“ verstärken, weil z. B. asiatisch gelesene Menschen dargestellt werden, obwohl es darum geht, dass Atemschutzmasken in München ausverkauft sind. Wo ist es notwendig, sensibler mit Wort, Tat und Bild umzugehen?

Huyen In allen Bereichen, sei es in der Schule, in den Behörden, bei der Polizei, nicht nur im Journalismus ist es notwendig, Rassismus-kritisch zu agieren und Entscheidungen zu treffen. Es muss sich strukturell und institutionell etwas verändern. Es dürfen nicht nur weiße Menschen über asiatische Menschen / Leben entscheiden / dokumentieren / schreiben, sondern mit uns bzw. auch uns einstellen und gezielt fördern, damit wir unsere eigenen Geschichten erzählen können. Unsere eigenen Lebensrealitäten abbilden. Vor allem sollten weiße Menschen sich bewusst werden, dass es nicht nur die eine asiatische Realität gibt, sondern viele differenzierte.

Es muss sich strukturell und institutionell etwas verändern.

Welche Bedeutung hat digitale Gewalt im Netz während der Corona-Pandemie für asiatisch gelesene Menschen?

Huyen Ich habe mir vor Kurzem einen Talk von der afroamerikanischen Schriftstellerin Claudia Rankine angeschaut und sie sagte darin „Rassismus ist auch immer ein visuelles Konstrukt.“ So vieles, was wir lernen, womit wir uns tagtäglich umgeben sind Bilder von weißen Menschen, die in all möglichen Positionen sitzen und situiert werden. BIPOC* (Black Indigenous People of Color) finden selten einen Platz in den Mainstream-Medien und das an sich ist schon intrinsisch rassistisch und zeigt uns, dass weiße Menschen Raum und eine Stimme haben. Anti-asiatischen Rassismus sehen wir in dem nicht-Vorhandensein von uns asiatischen Menschen sowie in nur gezielten rassistischen Bildern / Werbeanzeigen usw. Es geht viel weniger um die Intention, sondern um den Effekt. Wir von ichbinkeinvirus.org erhalten auch Hass-Emails und Kommentare auf all den Plattformen, auf denen wir sichtbar sind.

Kann man den alltäglichen Rassismus, der aktuell durch die Corona-Pandemie herrscht, mit den frühen 90er vergleichen? Gibt es Kontinuitäten oder auch Unterschiede?

Vicky Ich tue mich schwer, die aktuelle Situation mit der damaligen Situation zu vergleichen, welche wir heute mit Abstand betrachten können. Die wirtschaftlichen Folgen von Corona sind noch nicht da, sehr viele Menschen sind mehr als sonst im Internet – ein fruchtbarer Nährboden für Verschwörungstheoretiker*innen. Um die aktuelle Situation wirklich beurteilen zu können, würde ich gerne noch abwarten, wie sich Corona in unterschiedlichen Facetten auf die Gesellschaft, die Wirtschaft und insbesondere das rechte Spektrum, auswirkt.

Auf eurer Website seid ihr solidarisch mit anderen Communities, die auch von Rassismus betroffen sind. Aktuell sehen wir, dass globale Protestbewegungen gegen Polizeigewalt und gegen Rassismus im Aufwind sind. Sind diese Proteste eine Chance, um strukturellen Rassismus zu thematisieren und entgegenzuwirken?

Huyen Diese und alle anderen tagtäglichen Proteste in allen möglichen Formen sind wichtig, um nachhaltig strukturellen Rassismus zu dekonstruieren und neue Realitäten für uns und mit uns zu visionieren. Wir brauchen sowohl die Menschen, die auf die Straße gehen als auch die Akademiker*innen, die sich für eine Asian German und Black German Studies aussprechen, als auch die Unternehmer*innen, die gezielt marginalisierte Menschen einstellen, als auch die Künstler*innen, die unsere Narrative im Mittelpunkt haben. Wir brauchen jede*n Einzelne*n von uns, um neue Strukturen aufzubauen. Es müssen Gelder in Projekte fließen, die das nachhaltig und intersektional thematisieren.

Zur Entstehungsgeschichte eures Projektes: Ihr wart beim #wirvsvirus Hackathon der Bundesregierung das einzige Projekt, das sich mit dem Thema Rassismus und Covid-19 beschäftigt hat und wurdet von einer komplett weißen Jury abgelehnt. Jetzt finanziert ihr die Website komplett aus eigener Tasche. Was braucht ihr, um eure Vision umzusetzen?

Vicky Wir wurden sogar zweifach abgelehnt und ein rechtes Magazin hat auf Twitter dazu aufgerufen, unser Projekt runterzuvoten. Wir sind dadurch das Projekt mit den meisten Dislikes geworden, die Veranstalter*innen haben sich dabei nicht solidarisch gezeigt oder uns unterstützt. Unsere eigentliche Vision war es, die Website Open Source verschiedenen Ländern international zur Verfügung zu stellen. Verschiedene Länder suchen sich im Rahmen von Corona unterschiedliche Sündenböcke – mit der Website hätten unterschiedliche Betroffenengruppen weltweit etwas davon gehabt. Ohne Förderung der Bundesregierung ist uns das leider nicht möglich gewesen, sodass wir ganz klare Grenzen ziehen mussten z. B. auch auf eine Mehrsprachigkeit der Website zu verzichten, um dabei auf unseren Energiehaushalt zu achten.

Wir brauchen und wollen einen Platz mit am Tisch, um unsere Visionen umsetzen zu können.

Für unsere kleine Vision für den deutschsprachigen Raum brauchten wir neben unseren Vollzeitbeschäftigungen vor allem Zeit nach Feierabend oder am Wochenende und Motivation durch solidarische Zuschriften. Ein paar Spenden haben wir per Paypal erhalten, dadurch sind die Serverkosten erst einmal gesichert. In dem Punkt macht mich die Bundesregierung einfach nur wütend. Erst heute habe ich mir die Berichterstattung der Deutschen Welle in Brasilien oder der Türkei über unser Projekt angeschaut. In solchen Momenten wird mir klar, was für ein Armutszeugnis es ist, dass unsere Bundesregierung unser Projekt nicht gefördert hat und wir beim Thema Mitspracherecht von marginalisierten Gruppen weiter zurückliegen, als ich dachte. Was es also wirklich braucht: Eine diverse Jury, die nicht infrage stellt, ob es Rassismus überhaupt gibt. Wir brauchen und wollen einen Platz mit am Tisch, um unsere Visionen umsetzen zu können.

Gerade ist das Berliner Antidiskriminierungsgesetz in Kraft getreten: Was kann es bewirken?

Vicky Ich denke, dass das Antidiskriminierungsgesetz bereits gezeigt hat, dass es mindestens bei der Polizei etwas zu tun gibt. Ich kann mir sonst nicht erklären, dass Bayerns Innenminister Joachim Herrmann keine Polizist*innen mehr nach Berlin schicken möchte. Ich selber kenne unzählige Fälle von Freund*innen, die auf dem Amt, bei der Wohnungssuche oder durch die Polizei diskriminierende oder rassistische Erfahrungen gemacht haben. Ich selber habe noch nie mit meinem vollen langen Namen, der auf meinem Personalausweis steht, einen Hauptmietvertrag in Berlin erhalten. Es gibt Fälle wie meinen, den ich nur schwer oder mit viel Aufwand beweisen kann. Es ist wichtig, dass es das Gesetz gibt und Diskriminierung verboten wird, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Wie lückenlos das Gesetz juristisch ist, wird sich, denke ich, erst mit der Zeit zeigen, –  auf dem Gebiet bin ich leider keine Expert*in.

Huyen Dieses Gesetz muss bundesweit eingeführt werden, denn viele meiner Schwarzen und muslimischen Freund*innen erfahren Racial Profiling. Dafür müssen Institutionen (Schule, Universität, Polizei, alle Behörden) verantwortlich gemacht werden. Es gibt noch so viel zu tun in Deutschland, wir stecken noch zu sehr in den Kinderschuhen.

Welche Rolle spielen Verschwörungsmythen im Zusammenhang mit anti-asiatischem Rassismus?

Vicky Ich habe nach der Veröffentlichung eines Interviews Post von einem Verschwörungstheoretiker erhalten mit Fotos von zerstückelten Hunden und der Bitte, ich solle doch Veganer*in werden und Chines*innen seien sowieso schuld an Corona. Dem angefügt war ein langes Schreiben, was an mich und die chinesische Botschaft adressiert war. Insgesamt war der Brief sehr wirr und die Sätze zum Teil zusammenhangslos. Worin wir uns unterschieden haben, war, dass er offensichtlich nicht an Wissenschaft oder an die Bildung geglaubt hat, an die ich glaube. Ich habe ihm nicht geantwortet, weil ich nicht wusste, wo ich ansetzen sollte und ich nicht viel Energie in Symptombekämpfung von Rassismus stecken möchte. Gleichzeitig waren seine Anschuldigungen an mich als asiatisch-Deutsche gerichtet, anti-asiatisch, rassistisch und damit für mich eine reale Abwertung meiner Person.

Das Interview wurde geführt von Moritz Marc und Beate Marquardt.

Thi Minh Huyen Nguyen ist freie Autorin, studiert im Master Medienwissenschaften und co-gründete die Laufgruppe Wayv Run Kollektiv um BIPoC* (inklusive queer, trans, inter, disabled) Menschen zu empowern. Weiterhin ist sie Teil von anti-rassistischen Initiativen wie ichbinkeinvirus.org und intersektionalen Räumen wie BIWOC* Rising.

Victoria Kure-Wu konzipiert als User Experience Designer Websites und Apps in Berlin und weiß, dass diverse Teams zu besseren und nachhaltigeren Ergebnissen kommen. Sie ist Initiatorin von www.ichbinkeinvirus.org und engagiert sich für Bildungsgerechtigkeit bei www.schuelerpaten-deutschland.de.

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