Nachgefragt!
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#21

Rebecca Maskos hat Psychologie und Disability Studies studiert, eine Ausbildung als Journalistin absolviert und promovierte im transdisziplinären Feld der Disability Studies. Sie ist als wissenschaftliche und journalistische Fachautorin und Weiterbildnerin zur Sensibilisierung für Ableismus und Inklusion aktiv. Seit ihrer Geburt lebt Rebecca Maskos mit Osteogenesis Imperfekta, den sogenannten „Glasknochen“.

Wie kriegen wir Ableismus aus den Köpfen raus?

Fragen zu Behinderung, Nicht-Behinderung und Inklusion an Rebecca Maskos

Wann hast du angefangen, dich mit Ableismus auseinanderzusetzen?

Ich bin mit Anfang 20 in die Behindertenbewegung eingestiegen, die seit ihrer Gründung davon ausgeht, dass Behinderung etwas mit Diskriminierung zu tun hat, eine Frage von Rechten und von Zugang ist und nicht eine Frage des Schicksals oder der Biologie. Genau das verdeutlicht der Begriff Ableism oder Ableismus, indem er mit der Endung -ismus eine Parallele herstellt zu anderen Diskriminierungskategorien wie zum Beispiel Rassismus oder Sexismus. Den Begriff Ableism habe ich das erste Mal in den USA gehört, 2000/2001. Aus Deutschland kannte ich damals nur den Begriff Behindertenfeindlichkeit, der zwar etwas Ähnliches meint, aber einen anderen Beigeschmack hat.

Wie würdest du den Begriff Ableismus erklären?

Der Begriff leitet sich von dem englischen Wort für Fähigkeit ab: „ability”. Wie auch bei anderen Begriffen mit der Endung -ismus geht es darum, dass eine Norm machtvoll durchgesetzt wird oder werden soll – in diesem Fall die Norm der Nicht-Behinderung. Nicht-Behinderung wird an alle Menschen als Maßstab angelegt und Menschen werden danach beurteilt, ob sie diesem Maßstab entsprechen oder nicht. Das betrifft letztlich alle, egal ob sie als behindert gelten oder nicht. Aber es trifft behinderte Menschen stärker, weil sie durch die Einsortierung als „behindert” oft gleichzeitig als defizitär, weniger kompetent, weniger leistungsfähig, als nicht autonom, als abhängig gesehen werden. In einem gesellschaftlichen Kontext, in dem genau das verlangt wird – also zum Beispiel autonom zu sein oder viel leisten zu können –, ist es ein Riesenproblem, wenn man in dieser Schublade steckt.

Kannst du dafür Beispiele nennen?

Eine klassische ableistische Erfahrung ist zum Beispiel, dass Menschen mit Behinderung oft nicht als erwachsene Subjekte wahrgenommen werden, die für sich selbst sprechen und eigenständige Entscheidungen treffen können. Wenn ich mit anderen Leuten unterwegs bin, die als nicht-behindert wahrgenommen werden, erlebe ich oft, dass nur mit denen geredet wird über meinen Kopf hinweg. Mein Freund wird oft nicht als mein Freund wahrgenommen, sondern als mein Betreuer.

Nicht-Behinderung wird an alle Menschen als Maßstab angelegt und Menschen werden danach beurteilt, ob sie diesem Maßstab entsprechen oder nicht.

Zentral ist auch die ableistische Vorstellung, dass Behinderung immer eine leidvolle Erfahrung sei, die unbedingt vermieden oder ausgeglichen werden müsse, etwa durch Therapien. Das wird von behinderten Menschen selbst ganz anders bewertet. Natürlich kann Behinderung auch leidvoll sein, aber eben nicht nur. Im Rahmen der Behindertenbewegung hat sich eine Disability Culture entwickelt, die Behinderung feiert und Behindertsein auch als Lebensstil sieht, als einen Teil von Vielfalt. Gleichzeitig kann man die Frage stellen: Wo kommt denn dieses vermeintliche Leiden her? Ist das Leiden ein rein körperlich-seelisches oder ist es eingebettet in Umstände, die überhaupt erst Ausgrenzung verursachen oder stigmatisieren? Geht es eigentlich darum, mit wie vielen Barrieren man konfrontiert ist? Beispiel Schmerzen: Hat jemand ausreichend Zugang zu Schmerzmitteln oder zu Hilfsmitteln, die die Schmerzen abmildern? Mir begegnet auch oft ein Exotisierungsdiskurs oder der Diskurs, dass Behinderung etwas Unheimliches sei, etwas, das Angst macht. Ich werde im Alltag relativ oft angestarrt. Wo kommt es her, dass Leute so starren? Und warum merken sie nicht, dass das auch eine Invasion von Privatsphäre ist? Von ungewöhnlichen Körpern so fasziniert zu sein, hat auch was mit kultureller Tradition zu tun: Rumpelstilzchen, Die sieben Zwerge, Quasimodo, diverse Alien-Darstellungen,... Sogenannte „Freakshows” oder auch Jahrmärkte haben früher viel damit gearbeitet, behinderte Menschen „auszustellen”. Diese Tradition lebt immer noch fort und und unterstützt bestimmte Zuschreibungen wie „unheimlich” oder „lustig”.

Behinderte Menschen, chronisch kranke Menschen sind keine kleine Minderheit.

Ein weiterer wichtiger Diskurs ist Behinderung als „Last” oder „Belastung”. Er findet sich oft in der verinnerlichten ableistischen Haltung wieder, gerade bei älteren Menschen, dass sie selber keine Last für andere sein wollen. Es gibt auch den gesellschaftlichen Diskurs, dass Behinderung und Krankheit viel kosten. Schon alleine der Begriff „Pflegefall”: Natürlich sind pflegende Angehörige de facto meistens überlastet, aber was für ein Bild reproduziert man da eigentlich? Nimmt dabei auch mal jemand die Perspektive von sogenannten „Pflegefällen” ein? Den Diskurs der Last kennen wir auch aus sozialdarwinistischen und eugenischen Ideologien: In behinderten und kranken Menschen wurde eine Ursache für bestimmte gesellschaftliche Probleme gesehen – und die Ideologie behauptete, wenn es weniger behinderte und kranke Menschen gäbe, würde es der Gesellschaft besser gehen. Dieser Diskurs war um die vorletzte Jahrhundertwende, also 19.-20. Jahrhundert, sehr populär. Die Nazis haben dann rund 300.000 Menschen mit Behinderung systematisch umgebracht und noch viele, viele mehr zwangssterilisiert – das alles vor dem Hintergrund dieser Ideologie: „Die Mehrheitsgesellschaft darf nicht gebremst werden durch Behinderung und Krankheit.” Im Kleinen kann man so ein Denken auch alltäglich wiederfinden, z. B. in der Corona-Pandemie: „Wenn wir endlich mal aufhören, die Risikogruppe zu schützen, dann könnte es mit unserer gesellschaftlichen Situation endlich wieder vorangehen.” Boris Palmer oder Juli Zeh zum Beispiel haben diese Haltung sehr populär gemacht. Die Gefahr durch Corona wurde verlagert auf die Risikogruppe: Es sei eine vermeintlich klar abgrenzbare Minderheit, für die Corona ein Problem darstelle und die müsse man absondern. Das ist letztlich eine sozialdarwinistische Trope.

Dass diese Vorstellung, Behinderung auf eine kleine Minderheit eingrenzen zu können, Quatsch ist, hat sich durch die Pandemie ja ganz offensichtlich gezeigt, weil letztlich alle durch Corona gefährdet waren und sind. Manche mehr, manche weniger. Behinderte Menschen, chronisch kranke Menschen sind keine kleine Minderheit. 10 % der deutschen Bevölkerung haben einen Schwerbehindertenausweis. Psychisch oder körperlich von anderen Menschen abhängig zu sein, passiert uns allen ständig in unterschiedlichen Formen. Mit Beeinträchtigungen durch Krankheit, Unfälle oder später im Alter sind potenziell alle konfrontiert.

Wie ist der Begriff Ableismus entstanden? Und wie ist er nach Deutschland gekommen?

Ich denke, dass der Begriff in der Behindertenbewegung entstanden ist. Theoretisiert und ausgearbeitet wurde er durch die Disability Studies. In den USA wurde der Begriff Ableism 1981 das erste Mal verwendet, in einem Sonderheft der feministischen Zeitschrift Off our Bags.

Das Neue am Begriff Ableismus ist, sich auch die Norm, also auch Nicht-Behinderung, anzugucken.

Als ich den Begriff 2002/2003 das erste Mal verwendet habe, war er mir in anderen deutschen Texten noch nie begegnet. 2010 hat Christiane Hutson den Begriff in einem Text über Intersektionen von Rassismus und Ableism stark gemacht. Ich habe im selben Jahr einen Text zu Ableismus in der Zeitschrift arranca! veröffentlicht, der viel rezipiert wird, worüber ich mich sehr freue. Aber auch vorher wurde schon einiges zu Behinderung als Diskriminerungsdimension geschrieben, es wurde nur anders bezeichnet. Zum Beispiel hat Birgit Rommelspacher schon in den 1990er Jahren genau das aufgegriffen, was mittlerweile unter dem Titel Ableismus diskutiert wird. Sie hat es Behindertenfeindlichkeit genannt, aber auch schon als gesellschaftliches Machtverhältnis verstanden. Das Wort Behindertenfeindlichkeit passt nicht ganz so gut dazu. Es hat ja auch Gründe, dass man nicht mehr Frauenfeindlichkeit oder Ausländerfeindlichkeit sagt wie in den 1990ern, sondern Sexismus und Rassismus.

Parallel zu Rassismus und Sexismus geht es bei Ableismus um eine gesellschaftlich verankerte Denkstruktur, die Diskriminierungen auf unterschiedlichen Ebenen bewirkt – auf einer individuellen, einer strukturellen und einer institutionellen Ebene. Das Neue am Begriff Ableismus ist, sich auch die Norm, also auch Nicht-Behinderung, anzugucken. Dieser neue Gedanke ist vielen Leuten noch total fremd.

Du hast von den unterschiedlichen Ebenen gesprochen, auf denen Ableismus wirkt. Auf welchen Ebenen sollte angesetzt werden, wo sollte sich dringend etwas ändern?

Die verschiedenen Ebenen sind alle miteinander verzahnt und beeinflussen sich gegenseitig. Zentral wäre, die schon vorhandenen Regeln umzusetzen: Wir haben ja die UN-Behindertenrechtskonvention. Die Staaten haben zwar fast alle zugesagt, dass sie sich daran halten wollen. Es gibt regelmäßige Kontrollen durch die UN. Dabei wird Deutschland auch regelmäßig gerügt. Das bleibt aber erst mal sanktionsfrei. Gerügt wird Deutschland zum Beispiel für die segregierten Lebensumstände von nicht-behinderten und behinderten Menschen.

Ich mache hier auch diese Trennung: nicht-behindert und behindert. Mir ist es einerseits wichtig zu zeigen, dass es eine Kontinuität oder eine Art Spektrum gibt zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung. Andererseits aber möchte ich die Kategorien benennen, die gesellschaftlich gesetzt werden. Wenn man in der Schublade „behindert” landet, dann sind in Deutschland die Lebensumstände oft noch sehr anders als die von Nicht-Behinderten.

Inklusion, die sich Deutschland immer auf die Fahnen schreibt, ist in ganz vielen Bereichen nicht annähernd umgesetzt. Das fängt bei Schule und Kindergarten an. Es gibt immer noch sehr viele Förderschulen anstelle inklusiven Unterrichts und eine starke Lobby dafür. Dass der Förderschullandschaft beibehalten wird, zieht Ressourcen, die für den Ausbau eines funktionierenden inklusiven Unterrichts gebraucht werden. Dadurch fehlt es in Regelschulen überall an Inklusionslehrer_innen. Ebenso gibt es auch eine starke Lobby für das Werkstättensystem – ein verqueres, sich selbst erhaltenes System: Obwohl der Auftrag der Werkstätten ist, die Leute für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren, landen nur 1-2 % nach einer Zeit in der Werkstatt auf dem regulären Arbeitsmarkt. Man kann natürlich sagen: „Ja, ist doch gut, wenn diese Menschen eine besondere Förderung erhalten. Sie würden doch untergehen in der normalen Arbeitswelt.” So wie die Arbeitswelt verfasst ist, würden sie das auch. Die Frage ist immer: Gibt es genug Assistenz? Und sind die Institutionen, die Unternehmen überhaupt bereit, sich zu öffnen für andere Bedürfnisse oder für andere Bedingungen von Arbeit? Es würde ja letztlich allen zugutekommen, wenn es unterschiedliche Anforderungen gäbe, wie Arbeit abzulaufen hat. Aktuell können Arbeitgeber_innen monatlich eine Ausgleichsabgabe zahlen, wenn sie nicht genug Leute mit Behinderung einstellen. Damit ist das Problem dann für sie erledigt. Inklusion würde hingegen bedeuten, dass nicht die Leute sich anpassen müssen an die Struktur, sondern dass sich die Struktur öffnet und anpasst an die unterschiedlichen Bedürfnisse der Leute. Auch für Heime und Wohneinrichtungen in Deutschland gibt es immer wieder Rügen von der UN. Auch wenn der überwiegende Teil behinderter Menschen nicht in Heimen lebt, leben rund 200.000 Menschen in einer Wohneinrichtung. Es sind Orte großer Abhängigkeit, in denen ziemlich leicht Gewalt entstehen kann. Der Verein AbilityWatch hat letztes Jahr ein Rechercheprojekt dazu aufgesetzt namens Ableismus tötet. Allein im Jahr 2019 gab es über 200 Straftaten im Kontext von Heimen und Einrichtungen, die zur Anzeige gebracht wurden – die tatsächliche Zahl ist also weitaus höher. 2021 hat eine Pflegerin im Potsdamer Oberlinhaus vier Menschen in ihrem Bett erstochen. Am Tag vorher war die Heimaufsicht da und hat gesagt: Alles tipptopp bei euch im Heim. Stundenlang ist überhaupt nicht aufgefallen, dass die Leute in ihrem Bett verbluten. Das sagt so viel aus. Es wird dann als Einzelfall abgetan. Aber auch in anderen Heimen ist das theoretisch möglich. Das zeigen ja auch weitere Taten: Zum Beispiel haben im Wittekindshof in Bad Oeynhausen Mitarbeiter_innen im großen Stil Leute fixiert und mit Pfefferspray ruhiggestellt. Das Schlimme ist, dass diese Fälle relativ schnell wieder aus den Medien verschwinden, auch die Morde von Potsdam. Dabei sind es massivste Menschenrechtsverletzungen. Die haben natürlich auch mit Arbeitsbedingungen usw. zu tun, aber ein stressiger Arbeitsalltag ist kein Grund, Menschen zu ermorden. Was hat das also auch mit Hass auf behinderte Menschen zu tun? Ich finde, man könnte die Morde in Potsdam als Hate Crime bezeichnen, aber das wird nicht gemacht. Es gab sogar eher einen medialen Diskurs von „tragischen Sterbefällen”, „tragischen Vorfällen”. Strukturell muss die Bundespolitik dieses Thema ernst nehmen und zur Chefsache machen. Es kann so nicht weitergehen.

Eine Vielfalt von Persönlichkeiten wird bei behinderten Menschen oft gar nicht angenommen.

Noch ein Beispiel: Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft. Barrierefreiheit ist Pflicht an Orten, die öffentliche Gelder bekommen, wie zum Beispiel Ämter und Behörden. Aber dort, wo ich meine Freizeit verbringe, in Cafés und Theatern, in Kinos, da ist sie nicht verpflichtend. Wirklich wirksame Veränderungen können meiner Meinung nach nur auf einer strukturellen Ebene angestoßen werden – wenn Barrierefreiheit endlich sichergestellt wäre und wir uns tatsächlich alltäglich begegnen würden, anstatt dass Behinderung nur separiert an bestimmten Orten stattfindet. In den USA zum Beispiel müssen sowohl öffentliche Einrichtungen als auch Privatwirtschaft barrierefrei sein. Behinderte Menschen sind da seit Jahrzehnten ziemlich selbstverständlicher Teil des Alltags. Zum Beispiel muss man sich in den USA wirklich nie Gedanken darüber machen, ob man eine behindertengerechte Toilette in der Nähe hat, weil es Pflicht ist. Ein anderes Beispiel sind elektrische Türöffner, die dort alle ständig nutzen, weil es für alle entspannter ist, als sich immer gegen eine schwere Schwingtür zu stemmen. Die Leute merken gar nicht mehr, dass das eigentlich was mit Behinderung zu tun hat. Genau da muss es hingehen: dass es auch ein Vorteil für die Mehrheitsgesellschaft ist, dass Behinderung mitgedacht wird.

Durch das Konzept Intersektionalität wurde die Diskriminierung marginalisierter Gruppen in den letzten Jahren und Jahrzehnten sichtbarer. Gilt das deiner Meinung nach auch für Ableismus?

Ich habe leider nicht den Eindruck, dass Diversity- und Intersektionalitätskonzepte Behinderung schon selbstverständlich einbeziehen. Ich glaube aber, dass der Begriff Ableismus dazu beigetragen hat, dass Leute Behinderung als Diskriminierungskategorie mitdenken, als etwas, das einen gesellschaftlichen und politischen Gehalt hat. Leider ist dieses Verständnis aber in Deutschland noch nicht so verbreitet, auch in Intersektionalitätskontexten nicht.

Mir fällt das zum Beispiel in Debatten zu Care-Arbeit auf. Darin geht es fast nie um die Leute, die Care bekommen, Stichwort „Pflegefall”, sondern es geht in erster Linie um die Care-Arbeiter_innen. Das ist eine ganz wichtige Debatte, gleichzeitig fehlt mir oft der Blick darauf: Was sagen denn diejenigen dazu, die Pflege, Care und Assistenz bekommen? Wie sind deren Lebensbedingungen? Wenn sie Teil der Debatten wären, wären vielleicht auch Konzepte jenseits traditioneller Pflege bekannter: zum Beispiel Persönliche Assistenz, ein Konzept, das aus der Behindertenbewegung heraus entwickelt wurde. Dabei wird sozusagen die Macht umverteilt: Die Leute, die Assistenz bekommen, leiten die Assistent_innnen an und fungieren als Arbeitgeber_innen. Assistenz ist nicht in jeder Care-Beziehung machbar, aber viel mehr Leute könnten Assistenznehmer_innen sein.

Behinderte Menschen werden oft als Extrakategorie wahrgenommen. Als ich noch hauptberuflich als Journalistin gearbeitet habe, fand ich immer faszinierend, dass Journalist_innen mit Behinderung in den Köpfen nicht vorkommen. Pressetribünen waren eigentlich nie barrierefrei. In der Vorstellung vieler führen behinderte Menschen eher so was wie ein gesichtsloses, abgeschottetes Leben, haben keine Kinder und auch nicht so viele Freund_innen, keine Beziehung und keine Sexualität. Man ist dann eher überrascht, wenn sie – ich bin jetzt mal ein bisschen polemisch – so exotische Interessen haben wie Reisen oder Kochen. Eine Vielfalt von Persönlichkeiten wird bei behinderten Menschen oft gar nicht angenommen.

Wie sieht deiner Meinung nach ein gutes Verbündetsein aus mit Menschen, die Ableismus erfahren?

Das Allerwichtigste ist: nicht annehmen, dass man weiß, was gut ist für die Person, sondern die Person fragen, was sie braucht. Zum Beispiel auch, wie sie bezeichnet werden möchte. Das gilt auch für das Thema Hilfe: Wie viel Hilfe ist angemessen? Wann wird es übergriffig, wann wäre es zu wenig Hilfe? Man sollte die Leute fragen, was sie brauchen, und davon ausgehen, dass sie oft nicht so hilfsbedürftig sind wie man denkt. Es ist ein ableistisches Klischee, dass Menschen mit Behinderung immer und überall Hilfe brauchen.

Womit man vorsichtig sein sollte, sind private Fragen wie „Warum sitzt du im Rollstuhl?”, wenn man sich gerade erst zehn Minuten kennt. Behinderte Menschen erleben außerdem oft übertriebene Bewunderung für Alltäglichkeiten – etwa dafür, einkaufen oder arbeiten zu gehen. Gut wäre, ein bisschen zu überlegen: Was möchte ich gerade loben? Ist das vielleicht Ausdruck meiner niedrigen Erwartungen an behinderte Menschen? Oder auch meiner stereotypen Vorstellung von Behinderung als Leiden? Zum Beispiel finde ich es sehr problematisch, wenn mir auf Partys gesagt wird: „Ach Mensch, toll, dass du auch hier bist.” Denn das heißt ja eigentlich: „Mensch, jemand wie du gehört nicht auf eine Party. Dich hätte ich eher mit was Traurigem in Verbindung gebracht oder damit, alleine zu Hause rumzusitzen.” Natürlich ist das nicht so gemeint, aber es ist trotzdem Ausdruck ableistischer Stereotype.

Wenn man zum Beispiel Projekte oder Veranstaltungen plant, kann man dabei die Perspektive einnehmen: Ist unser Vorhaben barrierefrei? Was bräuchten wir, um es barrierefrei zu machen?

Über diese alltäglichen Interaktionen hinaus ist es immer gut, sich über Behinderung zu informieren: Was sind historische Hintergründe? Wie ist die Lebenssituation von behinderten Menschen aktuell? Wie war sie früher? Man kann Behinderung auch immer wieder als Thema einbringen. Wenn man zum Beispiel Projekte oder Veranstaltungen plant, kann man dabei die Perspektive einnehmen: Ist unser Vorhaben barrierefrei? Was bräuchten wir, um es barrierefrei zu machen? Haben wir behinderte Menschen als Nutzer_innen mitgedacht oder nicht? Wichtig ist auch, dabei nicht von behinderten Menschen zu erwarten, dass sie das immer erklären oder allen Leuten zeigen möchten, wie ihr Alltag aussieht.

Umgekehrt ist auch Fehlertoleranz wichtig, denn Leute haben eh schon Angst und Unsicherheit behinderten Menschen gegenüber. Wenn dann noch die Sorge obendrauf kommt, etwas falsch zu machen oder jemanden zu diskriminieren, kann das einerseits gut sein für eine Sensibilisierung. Aber es kann auch verstärken, dass die Person eher auf Distanz geht. Ich würde sowas eher als Lernmöglichkeit sehen anstelle der Sichtweise: „Wie schlimm, jetzt muss ich mich schämen, jetzt bin ich ein_e schlimme_r Ableist_in.” Ableismus ist überall. Wir haben ihn alle im Kopf. Wir müssen einfach gemeinsam gucken: Wie kriegen wir Ableismus aus den Köpfen raus? Das ist wahrscheinlich eine Aufgabe, die nie ganz abgeschlossen sein wird.

Vielen Dank für das Interview.

Das Gespräch führte Lena Rahn.

Rebecca Maskos hat Psychologie und Disability Studies studiert, eine Ausbildung als Journalistin absolviert und promovierte im transdisziplinären Feld der Disability Studies. Sie ist als wissenschaftliche und journalistische Fachautorin und Weiterbildnerin zur Sensibilisierung für Ableismus und Inklusion aktiv. Seit ihrer Geburt lebt Rebecca Maskos mit Osteogenesis Imperfekta, den sogenannten „Glasknochen“.

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