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#9

Dr. Céline Barry forscht zu Rassismus, Feminismus und Intersektionalität und ist in unterschiedlichen antirassistischen Initiativen aktiv, u. a. bei der Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt und den Berlin Muslim Feminists. Sie ist Projektleiterin und Beraterin für das Antidiskriminierungsprojekt EACH ONE von Each One Teach One (EOTO) e.V.. EACH ONE bietet Beratung für Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen und führt Monitoring zu Anti-Schwarzem
Rassismus in Berlin durch.

Wider­stands­wissen sichtbar machen

Ein Gespräch über Rassismus und die Arbeit von EOTO e.V.

Du arbeitest bei Each One Teach One (EOTO) e. V., einem Verein mit Sitz im Wedding, der berlinweit aktiv ist. Was war der Impuls EOTO zu gründen? Wer ist im Verein aktiv und für welche Zielgruppen seid ihr aktiv?

Each One Teach One (EOTO) e. V. ist ein Community-Verein von und für Schwarze Menschen. Das Herz des Vereins ist die Bibliothek, die Literatur von Menschen afrikanischer Herkunft sammelt und bereitstellt. Impulsgebend war der Nachlass von Vera Heyer, einer Schwarzen Frau, die in den 1970er-Jahren begann, die Werke afrodiasporischer Autor*innen, Filme und Zeitungsartikel zu Schwarzen Themen zu sammeln.

Als Ort, an dem sich Schwarze Literatur konzentrierte, wurde das Archiv schnell zu einem wichtigen Treffpunkt für Schwarze Menschen: Lesungen, Netzwerktreffen, internationale Begegnungen. Projekte wie die Black Diaspora School nahmen Gestalt an, in der Schwarze Jugendliche lernen konnten, was sie betrifft, aber in der Schule meist nur am Rande Erwähnung findet: Gegenwart und Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland, afrikanische, afrodiasporische Geschichte, die Geschichte von Kolonialismus und Versklavung. Die Bedeutung eines Ortes, an dem sich die jungen Schwarzen Menschen treffen, austauschen und gemeinsam an Vorhaben arbeiten konnten, wurde hier sehr deutlich.

Heute umfasst das Archiv über 6.000 Werke und EOTO bietet ein breites kulturelles Programm an: ein regelmäßiger Literaturclub, das jährliche Literaturfestival Afrolution, Filmveranstaltungen, Workshops zu Themen, die für die Community relevant sind. Die Jugendarbeit (Nachhilfe, Workshops, Reisen, Treffpunkt) nimmt weiterhin einen wichtigen Teil ein. Politische Interessenvertretung und Antidiskriminierung bilden weitere Schwerpunkte unserer Arbeit. Allen Bereich ist gemeinsam, dass sie darauf abzielen, dem Empowerment Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen Raum zu geben.

Schwarz ist eine politische Selbst-bezeichnung, die sich von den rassistischen Fremdbestimmungen emanzipiert.

Indem wir „Schwarz, afrikanisch und afrodiasporisch“ sagen, möchten wir darauf aufmerksam machen, dass wir die Community in ihrer Vielfalt ansprechen: Menschen, die neu nach Deutschland gekommen sind, Menschen, die in Deutschland geboren sind, Menschen, deren Familien bereits seit Generationen hier leben; Menschen aus afrikanischen Ländern sowie den Afrodiasporas, also Orten an die Afrikaner*innen während der europäischen Versklavung verschleppt wurden, vor allem den Amerikas.

Welche Rolle spielt Antirassismus in EOTOs Arbeit? Welche Definition von Rassismus ist für EOTO handlungsleitend?

Eine rassismuskritische Perspektive liegt EOTOs gesamter Arbeit zugrunde. Sie klingt bereits an, wenn wir von Schwarzen Menschen sprechen. Schwarz ist eine politische Selbstbezeichnung, die sich von den rassistischen Fremdbestimmungen emanzipiert. Wichtig ist, dass Schwarzsein nicht als biologistische Kategorie, z. B. als bestimmter Körper-, „Hautfarbe“ oder vordeterminierte Eigenschaften (Stereotype) verstanden wird.

Schwarz als Gegensatz zu weiß sind rassistische Kategorien, die im Kontext Versklavung und Kolonialismus erfunden wurden, um weiße Herrschaft und die Unterdrückung und Ausbeutung Schwarzer Menschen zu legitimieren. Anti-Schwarzer Rassismus (ASR) ist heutzutage in der Form neokolonialer Grenzregime, Diskriminierung und Gewalt aktiv. Schwarz zu sein hat also eine Bedeutung, es bildet eine gemeinsame Erfahrung, und deshalb müssen wir das benennen. Indessen wird Schwarzsein auf sehr unterschiedliche Weise erfahren – je nachdem, wo wir geboren sind, wo wir leben, wie wir positioniert sind: als Mann*, als Frau*, Queer, Trans*, Inter*, als behinderte Schwarze Person, je nachdem, welchen Aufenthaltsstatus, welches Einkommen, Schulabschluss usw. Schwarzsein ist also auch immer intersektional zu verstehen.

Ein wichtiges handlungsleitendes Dokument ist die UN-Anti-Rassismus-Konvention (ICERD, 1965), die auf die Menschenrechte rassifizierter Communitys verweist und zum Schutz vor rassistischer Diskriminierung aufruft. In diesem Zusammenhang steht auch die Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft der Vereinten Nationen (2015-24). In diesem Rahmen werden UN-Mitgliedsstaaten u. a. angehalten, Programme zum Schutz der Menschenrechte für Menschen afrikanischer Herkunft umzusetzen. Das Antidiskriminierungsprojekt EACH ONE wurde in diesem Zusammenhang mit Unterstützung der Landesantidiskriminierungsstelle gegründet. In dem Rahmen wirken wir mit bei der People of African Descent (PAD) Week. Im Europäischen Parlament setzten sich Aktivist*innen, Expert*innen und Politiker*innen für eine europäische Rahmenstrategie zur Förderung Menschen afrikanischer Herkunft sowie nationale Aktionspläne ein. Und bei der Onlinebefragung #Afrozensus, die erstmals die Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Perspektiven Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen erfasst.

Rassistische Positionen scheinen in der deutschen Gesellschaft wieder stärker zu werden bzw. werden offener geäußert. Welche Ansätze zur Sensibilisierung für Rassismus verfolgt ihr?

Die Verschärfung rassistischer Vorfälle und Diskurse ist immer eine Frage der Perspektive. Für die meisten Schwarzen Menschen war, ist und bleibt Anti-Schwarzer Rassismus (ASR) Alltag. Durch die Antidiskriminierungsberatung und die Dokumentation von Rassismusvorfällen im EACH-ONE-Monitoring verschaffen wir uns ein zunehmend klareres Bild davon, wie sich ASR manifestiert, in welchen Bereichen, nach welchen Mustern er funktioniert und – das liegt uns besonders am Herzen, – welche Handlungsstrategien Schwarze Menschen entwickeln, um sich gegen Rassismus zu schützen. Es geht also einerseits um die Zusammenführung von Zahlen. Diese sind wichtig für die politische Arbeit und die Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft, für die ASR bislang eine Randerscheinung darstellt, obwohl es ein strukturelles Phänomen ist. Andererseits, und hier liegt der Empowerment-Wert, macht die Dokumentation Widerstandswissen sichtbar. So können wir voneinander lernen, was zu tun ist, wenn was passiert, worauf wir achten müssen und wo wir uns Unterstützung holen.

Empowerment hat einen Wert für die gesamte Gesellschaft.

Als Community-Organisation steht also das Empowerment im Vordergrund: einen Ort der Zusammenkunft und der Heilung bereitzustellen, an dem Schwarze sein können, wie sie sind, sie aufatmen und ihre Themen behandeln und über intersektionale Grenzziehungen hinweg zusammenfinden und solidarisch miteinander sein können. Ferner gilt es dafür zu sorgen, dass der Schutz vor Anti-Schwarzem Rassismus in der deutschen Wirklichkeit verbessert wird. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern ist ein langfristiger Prozess, bei dem der Austausch mit den Communitys im Fokus steht und Themen bedarfsorientiert entwickelt werden müssen. So stimmen die EOTO-Projekte ihr Empowerment-Angebot kontinuierlich mit den Bedarfen der Menschen ab. So entstanden z. B. eine Jugendlesegruppe, ein Twi-Sprachkurs, der Young Queer Black Space, der Iwòsàn-Kreis für Schwarze Frauen* bei sexualisierter Gewalt, Workshops zum Umgang mit Polizeigewalt, eine Schreibgruppe, branchenspezifische Netzwerktreffen …

Empowerment liegt an der Wurzel der Befreiung von Rassismus. Wie der Pädagoge Paolo Freire nahelegt, können nur die Unterdrückten selbst sich befreien, indem sie selbstbestimmt auf ihr Schicksal einwirken. Und wenn die Unterdrückten sich befreien, befreien sie die gesamte Gesellschaft von dem Herrschaftsverhältnis, sich selbst sowie die Unterdrücker*innen. Empowerment hat also einen Wert für die gesamte Gesellschaft. In Bezug auf Rassismus liegt die Aufgabe weißer Menschen, die zur Gruppe der Unterdrücker*innen gehören, dann darin, dem Empowerment Schwarzer Menschen Platz zu verschaffen und zu unterstützen. So können die Fallstricke des Paternalismus, der bei der Hilfe von oben nach unten oft entsteht und Machtverhältnisse verhärtet, umgangen werden.

Wie beeinflussen die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie eure Arbeit? Welche Folgen hat die Corona-Pandemie auf rassistische Einstellungen in der Gesellschaft?

Praktisch bedeuten die Schutzmaßnahmen in erster Linie, dass die Bibliothek als Lern- und Veranstaltungsort geschlossen ist. Wie viele andere Organisationen hat EOTO sein Angebot umgestellt: Online-Plena, die Know-Your-Glow-Empowerment-Show und Netflix-Partys für Jugendliche, Beratung per Telefon und Mail, eine Notfall-Hotline bei Bedarf an Informationen oder in Krisensituationen.

Ganz besonders jetzt müssen wir darauf achten, den Kontakt zu den Leuten aufrecht zu erhalten bzw. neue Kommunikationswege zu finden und diese auszuweiten. Auch ist gesteigerte Aufmerksamkeit dahingehend gefragt, welche Auswirkungen die Corona-Krise strukturell und langfristig für unsere Communities haben wird. Denn wie wir wissen, treffen Krisen marginalisierte Gruppen am härtesten. Es ist vorauszusehen, dass Gruppen, die bereits jetzt in prekärer Lage sind, in gesteigertem Maße mit Geldsorgen, Wohnungsnot, Problemen mit Einreise und Papieren konfrontiert sein werden. Und hier müssen wir wie alle Antidiskriminierungsorganisationen wachsam dafür sein, was auf uns zukommt und zur Stelle sein.

Die Dokumentation von Rassismusvorfällen macht Widerstandwissen zugänglich.

Die Community-Arbeit und die Beratung sind hierfür wichtige Channels, da wir dort erfahren, was in der Gesellschaft los ist. Tatsächlich erfahren wir zunehmend von Diskriminierungsfällen, die mit der Corona-Situation zusammenhängen: Anti-Schwarze Anfeindungen auf der Straße oder durch Security-Personal, polizeiliches Racial Profiling, rassistisch motivierte Nachbar*schaftskonflikte. Darüber hinaus ziehen sich Beratungsprozesse in die Länge und verkomplizieren sich durch die Schließung bzw. den Notfallbetrieb von Behörden, Gerichten und anderen Einrichtungen. Dies sowie die Sorge vor der Zukunft bringen neue Verunsicherungen mit sich. Wir reagieren darauf, indem wir mit Ratsuchenden vertiefter ins Gespräch gehen.

Welche Kooperationen und gemeinsame Aktivitäten wären in der Demokratie- und Antidiskriminierungsarbeit in Berlin hilfreich und wichtig?

Bündnisse sind das A und O der Antidiskriminierungsarbeit. Gerade in Zeiten von Corona sind sie ausschlaggebend. Denn wenn die üblichen Kommunikationswege zu unseren Zielgruppen eingeschränkt sind, können wir als Organisationen dafür sorgen, dass unser Angebot für die Zielgruppen besser zugänglich ist, die Information über spezifische Bedarfslagen in den Bezirken fließt und politische Anliegen in gebündelter Kraft Aufmerksamkeit finden.

Generell ist Kooperation in Bezug auf Beratung und Empowerment wichtig, um die Unterstützungsstrukturen kennenzulernen und aufeinander zu verweisen. Dabei kann erarbeitet werden, welche kiezbezogenen Angebote und Schutzräume benötigt werden und wie sie sich umsetzen lassen. Das Monitoring lebt indessen davon, dass Menschen Vorfälle von Anti-Schwarzen Rassismus – als Betroffene oder Zeug*innen– bei uns melden. Diese Beobachtungen und Erfahrungen fließen in die Dokumentation und Berichte von EACH ONE. So werden sie Teil des widerständigen Wissensbestandes, mit dem wir – als Gesellschaft – gegen ASR sowie Diskriminierung im Allgemeinen vorgehen können.

Das Interview wurde geführt von Bettina Pinzl.

Dr. Céline Barry forscht zu Rassismus, Feminismus und Intersektionalität und ist in unterschiedlichen antirassistischen Initiativen aktiv, u. a. bei der Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt und den Berlin Muslim Feminists. Sie ist Projektleiterin und Beraterin für das Antidiskriminierungsprojekt EACH ONE von Each One Teach One (EOTO) e.V.. EACH ONE bietet Beratung für Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen und führt Monitoring zu Anti-Schwarzem
Rassismus in Berlin durch.

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