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#5

Prof. Dr. Sabine Hark ist Soziolog*in und leitet das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin. Zu den Arbeitsschwerpunkten gehören Wissenschaftssoziologie und Hochschulforschung, geschlechtersensible Fachkultur- sowie Professions-, Institutionen- und Sozialisationsforschung sowie Feministische Erkenntnistheorie und Queer Theorie. Aktuell hat sie mit Paula-Irene Villa das Buch „Unterscheiden und Herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart“ (transcript, 2017) veröffentlicht.

Über die Verflech­tungen von Rassismus, Sexismus und Feminis­mus

Interview mit Prof. Dr. Sabine Hark

Die Silvesternacht 2015/16 in Köln ist zur Chiffre geworden. Für was?

Wir sprechen von Köln als Chiffre in der Hinsicht, dass „Köln“ inzwischen für eine Reihe von Dingen steht, vor allem für die mangelnde Integrationsfähigkeit geflüchteter Menschen, besonders muslimischer Männer. „Köln“ wurde dafür, mit einem Begriff des französischen Soziologen Bruno Latour, zu einem „Ding von Belang“ gemacht. Latour unterscheidet zwischen reinen Fakten und Dingen von Belang. In letzter Zeit gibt es ja viele Auseinandersetzung um Fakten. Der Präsident der USA, Donald Trump, beispielsweise leugnet den Fakt des Klimawandels. Daher meinen viele, dass wir die Fakten verteidigen müssen und dass Wahrheit und Tatsache gewissermaßen dasselbe sind. So, als würden die Fakten für sich sprechen. Wirklichkeit erschöpft sich aber nicht in Fakten. Köln, das ist so ein Moment gewesen, wo aus einem Fakt, einer Tatsache, ein solches „Ding von Belang“ im Latourschen Sinne wurde. Es ist unstrittig, dass in der Silvesternacht 2015 auf der Kölner Domplatte etwas passiert ist, es waren viele Menschen da, es wurde gefeiert. Menschen, Frauen, wurden geängstigt, sie wurden beklaut und betatscht. Es gab Übergriffe, die nach heutigem Sexualstrafrecht Straftaten darstellen. Doch das alleine macht Köln noch nicht zu einem Ereignis. Damit aus einem Faktum ein Latoursches „Ding“ wird, müssen mediale Verarbeitungen, politische oder kulturelle oder religiöse Deutungen, polizeiliche Maßnahmen, juristische Regelungen usw. hinzukommen - was ja im Falle der Kölner Silvesternacht auch unmittelbar eingesetzt hat. Wir alle können uns sicher noch an die Schlagzeilen erinnern, die vielen Artikel, die danach quasi im Stundentakt erschienen sind. Und viele dieser Berichte, die so taten, als würden sie einfach nur berichten, was auf der Domplatte passiert ist, haben von etwas berichtet, von dem noch niemand genau wusste, was passiert ist. Man wusste beispielsweise nicht, was in strafrechtlicher Hinsicht gesehen dort passiert war, dennoch war von strafrechtlich relevanten Vorfällen die Rede. Erst sehr viel später wussten wir, dass ein Großteil der unzweifelhaft gewalttätigen Übergriffe strafrechtlich überhaupt nicht relevant gewesen ist, weil das Sexualstrafrecht in der damals alten Fassung ein Großteil dieser Übergriffe überhaupt nicht erfasst hat. Viele Medien wussten vermeintlich sofort, wer die Täter und wer die Opfer sind. Und die Täter, das schien ausgemachte Sache, waren sofort die sogenannten „nordafrikanischen Intensivtäter“, Muslime, Araber, Geflüchtete.

Dann kommen die politischen Kommentierungen der unterschiedlichen Art und Weise hinzu. All das hat aus dem “nackten” Geschehen auf der Kölner Domplatte das Ereignis werden lassen, das heute damit in Verbindung gebracht wird.

Was ist dieses „Ding“ von Köln und warum ist es für uns ein „Ding von Belang“ geworden?

„Köln“ ist etwas, das in einer bestimmten Weise so konstruiert wurde, dass es „uns” angehen sollte. Es wurden Grenzen zwischen „uns“ und „denen“ gezogen. In der medial-politischen Anreicherung des konkreten Geschehens wurden auch moralische Politiken mobilisiert: Weiße deutsche Frauen wurden adressiert als Opfer. Aber auch als diejenigen, deren Körper besonders beschützt werden müssen vor dem nicht-weißen Mann. Sie sind also diejenigen, die erst bedroht sind, wenn nicht-weiße, nicht-deutsche Männer ins Spiel kommen. Weiße deutsche Männer wurden adressiert als diejenigen, die noch mehr hätten tun können, um die weißen deutschen Frauen zu schützen. Und die versagt haben - auch das im Übrigen eine interessante Konstruktion, die sich in vielen Artikeln fand. Der weiße deutsche Mann, der entweder zu schwach war oder nicht mehr genug Potenz hat, um dem männlichen fremden Eindringling Paroli zu bieten.

Viele Medien wussten sofort, wer die Täter, wer die Opfer sind.

Es wurde also eine Art Zivilisationsgrenze gezogen: Wir, die weißen deutschen Männer, sind schon so zivilisiert, dass wir ganz anders mit Frauen umgehen. Überhaupt ist das Geschlechterverhältnis im Westen wesentlich pazifiziert, egalitär organisiert und der weiße Mann gewissermaßen geschlechterdemokratisch eingehegt. Die Konstruktion des aufgeklärten geschlechterdemokratischen Westens bot auch eine Einfallsschneise für feministische Positionen. Diesbezüglich sprechen meine Kollegin Paula-Irene Villa und ich im Buch davon, dass es zu toxischen, zu rassistischen Aufladungen feministischer Positionen gekommen ist. Wenn schon die weißen deutschen Männer die Frauen nicht schützen können, wenn der Staat und die Polizei die Frauen nicht schützen können, dann muss es eben der Feminismus tun.

Die „Anderen“ sind die Bedrohung, die kein Recht haben, hier zu sein. Sie wurden in hohem Maße entmenschlicht dargestellt. Die Dehumanisierung in der Darstellung der anderen spielt ja ohnehin eine wesentliche Rolle in rassistischen, aber auch in sexistischen Politiken. Wenn etwa nur noch von dem „Sex-Mob“ gesprochen wird oder wenn von den „Kopftuch-Mädchen“ gesprochen wird.

Was ist das qualitativ Andere, was ist das Neue daran, was an der Chiffre Köln deutlich wurde?

Neu sind die Dynamiken, die wir nach Köln beobachten konnten, für sich genommen nicht. Diese Artikulationsweisen sind sehr alt. So alt wie der Kolonialismus, als das weiße Europa beschlossen hatte, sich den Rest der Welt anzueignen, diesen Rest zu unterwerfen. Überraschend war vielleicht für unseren gesellschaftlichen Kontext, dass diese Dynamiken und Muster der rassistischen Veranlagung so leicht zu mobilisieren waren. Das hat viele überrascht. Das hätte ich persönlich auch so nicht erwartet. Auch ich war überrascht, wie schnell das in den Wochen und Monaten im Frühjahr 2016 ging. Wobei jetzt, drei Jahre später, eine sich über fast nichts mehr wundert, angesichts dessen, was heute alles auch offen rassistisch sagbar ist. Aber „Köln“ war in dieser Hinsicht tatsächlich ein Wendepunkt – und das im Übrigen nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Europa und weltweit, es ist ein zentraler Referenzpunkt für den islambezogenen Rassismus geworden. Das ist fast wie eine Droge, die immer wieder konsumiert werden muss: Der sexuell gefährliche Muslim, der entfesselte junge arabische Mann. Diese Droge ist an vielen Orten immer wieder aktivierbar und immer noch mit Referenz auf die Kölner Nacht. Und das zu thematisieren, heißt nicht zu leugnen, dass unter den geflüchteten Männern auch Vergewaltiger und Missbraucher zu finden sind. Das ist sehr wichtig. Aber wir dürfen hier nicht pauschalisieren oder versämtlichen, wie wir das im Buch nennen.

Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem männlichen Partner getötet.

Man kann also nicht sagen, da ist etwas gänzlich Neues entstanden. Es sind alte Rhetoriken, alte Politiken der Feindschaft, die reaktiviert wurden und hier gewissermaßen kulminierten. Auch die Verflechtung von Rassismus und Sexismus ist nicht neu. Aber gewissermaßen der Hitzegrad, der ist für die jüngere bundesrepublikanische Geschichte neu. Nicht, das wir nicht in den frühen 1990er-Jahren nach der Wiedervereinigung auch schon eine extrem „heiße“ rassistische Gewaltwelle erlebt haben. Auch da finden wir schon Spuren, die darauf hindeuten, dass Sexismus-Kritik Teil tendenziell rassistischer Diskurse wurde. Aber das ist damals noch sehr verhalten. Der Topos der sexuell übergriffigen, nicht europäischen, nicht aufgeklärten muslimischen, arabischen oder nordafrikanischen Männer, das ist tendenziell neu. Die Jahre davor waren ja vor allem vom Streit um das Kopftuch der Muslima geprägt. Nun rücken die jungen, familiär ungebundenen Männer in den Vordergrund. Neu ist sicher auch die explizit rechte feministische Mobilisierung, die wir in jüngster Zeit erleben. In Berlin fanden ja mittlerweile mehrere rechte, vorgeblich feministische Frauenmärsche statt. Wir erleben jetzt sowohl in der Bundesrepublik als auch europaweit, dass antidemokratische Rechte sich in gewisser Weise auch als feministische Kräfte darstellen.

Wir arbeiten mit sehr unterschiedlichen Menschen zusammen. Da begegnen uns ebenfalls diese Bilder, antimuslimischer Rassismus verwoben mit Sexismus. Wir fragen uns, wie wir die Diskurse in irgendeiner Form brechen oder andere Akzente setzen können.

Das ist eine ganz wichtige Frage, wie brechen wir Stereotype, wie brechen wir Vorurteile auf. Wichtig scheint mir, dass wir an die moralischen, affektiven Dimensionen herankommen, die mit Stereotypen verbunden sind. Was wird einer durch die Stereotype als vertraut, als sicher nahegebracht? Wen erleben wir dadurch als Gefahr, wen als uns zugehörig oder als fremd? Gerade aus einer feministischen Perspektive betrifft das ja einen sehr wichtigen Zusammenhang: Alle Statistiken sagen, dass die größte Gefahr für Frauen in ihrem unmittelbaren Nahumfeld besteht. Die größte Gefahr für Frauen geht von Menschen – und es sind vor allem Männer – aus, die ihnen am nächsten sind. Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem männlichen Partner getötet. Nicht vom jungen afrikanischen Mann, der an der Straßenkreuzung steht, sondern von ihrem Partner. Dem Mann, mit dem sie lebt, mit dem sie Bett und Küche teilt. Das ist die Realität. Ich kann ein stückweit sogar verstehen, dass diese Angst im Nahumfeld ausgeblendet werden muss. Weil sonst könnte keine Frau mehr unbefangen mit einem Mann leben. Statistisch gesehen ist das Risiko, mit einem Mann in einer Beziehung zu leben und das nicht unbeschadet zu überstehen, viel größer, als am Tag auf der Straße von einem türkischen oder arabischen Migranten auch nur angesprochen zu werden. Diese affektiven oder auch moralischen Ökonomien, wer uns also als nah und vertraut und wer als fremd und gefährlich erscheint, müssen wir aufdecken und deutlich machen, wie sie beispielsweise durch Stereotype reguliert werden.

Wie können wir vorgehen und unsere Perspektive deutlich machen?

In den Debatten wird dann oft reflexhaft “Nein, das ist aber nicht so” gesagt, also versucht, stereotype Darstellungen als falsch oder ideologisch auszuweisen. Das ist sicher wichtig, aber bestimmt nicht ausreichend. Umgekehrt darf aber auch nicht passieren, dass gesagt wird, es gibt keine sexualisierten Gewalttaten, die von geflüchteten oder muslimischen Männern verübt werden. Natürlich sind muslimische Männer potenziell genauso sexistisch wie jeder nicht-muslimische Mann. Wir haben jetzt in den USA einen weißen christlichen cis-Mann, Brett Kavanaugh, der mit Sicherheit getan hat, was Christine Blasey Ford ihm vorgeworfen hat, dennoch ist er als Richter ans oberste US-amerikanische Gericht, den Supreme Court, berufen worden. Wir müssen viel stärker untersuchen, wie stark Männlichkeit offenbar noch immer mit der Vorstellung verknüpft ist, legitim über die Körper von Frauen und von Kindern verfügen zu können.

Ziel rechter Politiken ist die Vernichtung der Pluralität der Welt.

Nur weil die Gefahr besteht, als rassistisch zu gelten, wenn sexualisierte Gewalt von geflüchteten Männern thematisiert wird, dass dann lieber nicht zu thematisieren, das kann selbstverständlich nicht die Antwort sein. Wichtig ist, die Ereignisse genau zu betrachten und zu analysieren und nicht, wie es nach Köln passiert ist, eine ganz schnelle, reflexhafte Kette loszutreten. Auch Alice Schwarzer hat sofort gewusst, wer die Täter sind, bevor irgendwer wirklich konkret wusste, welche Männer genau beteiligt waren. Bevor beispielsweise klar war, welche Männer im juristischen Sinne wirklich Täter sind, kursierte bereits die Erzählung, es seien junge Geflüchtete, es seien Muslime, die auf der Flucht brutalisiert wurden oder aus archaischen Gesellschaften kommen, aus denen sie ohnehin nichts anderes kennen als “Mann schlägt Frau”. Da brauche ich nicht mal Sozialwissenschaftlerin zu sein, um sagen zu können, ein bisschen faktenbasierter sollte man schon argumentieren.

Der antimuslimische Rassismus in der Frauenzeitschrift Emma zieht sich über Jahrzehnte durch. Das zeigt doch, dass ein Feminismus instrumentalisierbar ist bzw., dass es nicht den einen emanzipativen Feminismus gibt, sondern auch feministische Positionen anschlussfähig an rechte, nationalistische Ideenwelten sein können. Was können wir in einem bezirklichen Arbeitskreis der Frauenprojekte machen?

Ganz simpel, Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung über diese Positionen, über die Verflechtungen. Lernen auch zu unterscheiden bzw. zu verstehen, wie Unterschiede benutzt werden, um zu herrschen. Was aber wiederum umgekehrt nicht heißt, dass wir nicht lernen müssen, überhaupt zu unterscheiden, zum Beispiel zwischen rassistisch aufgeladenen feministischen Positionen, rechten feministischen Positionen und nicht-rassistischen feministischen Positionen. Hier müssen wir unterscheiden und hier müssen wir auch urteilen. Auch das ist im Übrigen eine unterschätzte politische Tugend. Hannah Arendt hat darüber geschrieben, über das Urteil als wichtige Tugend im Politischen. Nicht im Sinne des Verurteilens, sondern im Sinne der nötigen politischen Differenzierung. Ich bin vor Kurzem auf einer Tagung gewesen, auf der es um die links-rechts Spaltung ging und um die Frage, gibt es eigentlich Unterschiede zwischen linken und rechten Positionen und Politiken. Und ob wir nicht im linken Spektrum Positionen finden, die zumindest strukturell vergleichbar dogmatisch, sektiererisch, ausgrenzend sind. Das kann so verhandelt werden, aber wir müssen dabei untersuchen, ob solche Positionen eine Politik der Feindschaft befördern bzw. darauf abzielen, die anderen nicht leben zu lassen. Diesen Unterschied jenseits womöglich existierender struktureller Ähnlichkeiten kann und muss man machen. Und dann ist es vielleicht nicht mehr der Unterschied zwischen links und rechts, aber der zwischen „lass ich die anderen leben“ oder sind in meiner Vision von Gesellschaft die anderen nicht vorgesehen, nicht existent. Und rechte Politiken sind in dieser Hinsicht für mich Politiken der Feindschaft. Ihr Ziel ist die Vernichtung der Pluralität der Welt, nicht deren Wertschätzung. Diesen Unterschied müssen wir machen und dieses Urteil müssen wir fällen.

Das Interview führten Berit Schröder und Andreas Ziehl.

Prof. Dr. Sabine Hark ist Soziolog*in und leitet das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin. Zu den Arbeitsschwerpunkten gehören Wissenschaftssoziologie und Hochschulforschung, geschlechtersensible Fachkultur- sowie Professions-, Institutionen- und Sozialisationsforschung sowie Feministische Erkenntnistheorie und Queer Theorie. Aktuell hat sie mit Paula-Irene Villa das Buch „Unterscheiden und Herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart“ (transcript, 2017) veröffentlicht.

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