Mehr jüdische Sichtbarkeit – auch im Außenbezirk!
Fragen an Lev Arie Shulov zum Projekt TKVA - Treptow-Köpenick für Vielfalt und gegen Antisemitismus
Wann und wie ist die Fachstelle TKVA Treptow-Köpenick für Vielfalt und gegen Antisemitismus entstanden?
2019 haben die Linke und SPD in der Bezirksverordnetenversammlung die Einrichtung einer Stelle gegen Antisemitismus auf der bezirklichen Ebene beantragt. Zu der Zeit gab es in Berlin schon eine Ansprechperson für Antisemitismus auf Landesebene. Treptow-Köpenick war aber der erste Bezirk, der eine solche Stelle bei sich geschaffen hat. Es ist ein Zuwendungsprojekt der politischen Bildung, die Stelle gehört also nicht zum Bezirksamt – auch das ist in Berlin einmalig. Ich arbeite für einen freien Träger: die pad gGmbH. Im März 2020 habe ich angefangen. Es war eine ganz neue Arbeit, ohne andere Menschen, die das Gleiche schon vorher gemacht haben oder anderswo machen.
Was sind die Ziele und Arbeitsschwerpunkte eures Projektes?
Das Projekt richtet sich präventiv gegen Antisemitismus und soll eine Anlaufstelle zu diesem Thema sein. Ein weiteres Ziel ist es, Menschen im Bezirk dafür zu sensibilisieren, was man gegen Antisemitismus tun kann. Es geht aber auch darum, jüdisches Leben im Bezirk zu fördern und sichtbar zu machen – und zwar nicht nur durch Gedenken, sondern auch im lebendigen Sinne.
Wie fördert man in einem Bezirk, in dem Jüdinnen*Juden weitgehend unsichtbar sind, jüdisches Leben?
Welche Ausgangslage hast du in Treptow-Köpenick vorgefunden?
Eine große Frage ist: Wie fördert man in einem Bezirk, in dem Jüdinnen*Juden weitgehend unsichtbar sind, jüdisches Leben? Die östlichste Synagoge in Berlin ist in Kreuzberg, der östlichste koschere Laden in Mitte. Antisemitismus existiert allerdings auch ohne Jüdinnen*Juden. Laut Studien – die genaue Zahl fluktuiert je nach Studie – gibt es in Deutschland bei 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung quer durch die Bevölkerungsschichten und Bildungshintergründe ein latentes oder fest verankertes antisemitisches Weltbild. Dagegen helfen Aufklärung, Bildung und Sichtbarkeit.
Existieren in Treptow-Köpenick gar keine Orte jüdischen Lebens?
Nicht mehr. In Köpenick gab es eine Synagoge mitten in der Altstadt und eine stabile jüdische Gemeinde, die auch sehr unabhängig war. Im Nationalsozialismus wurde die Synagoge geplündert, aber nicht abgebrannt, weil sie zwischen zwei Wohnhäuser gebaut war. Sie wurde erst später durch Bombardierungen zerstört. Was mich ein bisschen traurig macht: Das Grundstück wurde nach der Wiedervereinigung von der Jewish Claims Conference verkauft, sodass dort heute ein Mietshaus steht. Die Frage ist also: Wie organisiert man Räume? An sich braucht man für eine Synagoge keinen festen Ort, es braucht nur mindestens zehn Menschen.
Gibt es andere kulturelle Orte von früher als mögliche Anknüpfungspunkte?
Da kommen wir zum Thema Judentum in der DDR. Es gab eine jüdische Gemeinde im Zentrum von Ostberlin. Das religiöse Leben wurde in der DDR allerdings nicht unterstützt oder gefördert. Für Parteimitglieder war es nicht angesagt, sich religiös zu zeigen, und es war auch nicht Teil der Identität. Ich denke, für die Menschen war es ein kultureller Hintergrund. Ich habe zum Beispiel mal die Vorsitzende des BdA-Treptow, die aus einer jüdischen Familie kommt, gefragt: Wo sind die alteingesessenen Jüdinnen*Juden? Sie sagte, dass es hier keine alteingesessenen Jüdinnen*Juden gebe, nur Remigrant*innen.
Man muss hier in Treptow-Köpenick also vieles neu organisieren. Ich arbeite dabei mit Nachbarschaftszentren, mit kulturellen Räumen, mit lokalen Vereinen, mit Kirchengemeinden und dem Bezirksamt zusammen. Zum Beispiel hat sich eine sehr schöne Beziehung mit dem Künstlerverein MoBe moving poets e.V. ergeben: Der Verein hat Räume in einem sehr spannenden Haus: In einer Villa mit großem Garten, die von der jüdischen Industriellen-Familie Lehmann gebaut wurde – ein Ort mit jüdischer Vergangenheit also, der sich sehr gut für Treffen eignet. Dort hatte ich auch mein Projektbüro.
Was habt ihr in dem Projekt zum Beispiel gemacht, um für mehr Präsenz und Sichtbarkeit von jüdischem Leben im Bezirk zu sorgen?
Zuerst habe ich Veranstaltungen organisiert. Außerdem habe ich herumgefragt und Kontakte geknüpft. Im ersten Jahr habe ich zusammen mit Kooperationspartner*innen eine Begegnungswoche zum jüdischen Sukkot Fest organisiert, dem Laubhüttenfest. Das war ein Magnetpunkt. Zu Chanukka hatte ich die Idee, zusammen mit Künstler*innen einen großen Chanukka-Leuchter zu bauen, der dann draußen aufgestellt wurde, und lokal Menschen anzufragen, diesen Leuchter anzuzünden. Das war auch ein Empowerment-Projekt: Es hat Vernetzung angestoßen und Menschen konnten damit etwas für ihre eigene Sichtbarkeit tun. Durch solche Aktionen bin ich dabei, peu à peu eine sichtbare jüdische Community in Treptow-Köpenick zu entwickeln. Von Jahr zu Jahr, von Projekt zu Projekt kommen neue Leute dazu. Die Aktivitäten werden sichtbarer. Letztes Jahr kamen zum Beispiel beim Laubhüttenfest zwei Familien einfach spontan dazu und haben sich total gefreut, dass es so ein Angebot gibt.
Ich finde es wichtig, dass Menschen die Aktualität von Antisemitismus sehen.
Warum ist es deiner Einschätzung nach wichtig, heutiges jüdisches Leben sichtbar zu machen, um gegen Antisemitismus vorzugehen?
Nur in der Vergangenheit zu bleiben finde ich nicht zielführend. Ich finde es wichtig, dass Menschen die Aktualität von Antisemitismus sehen. Durch Begegnung ist es möglich, Barrieren zu überwinden. Und es ist ein Anliegen vieler Jüdinnen*Juden selbst, sich zu positionieren, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen, aktiv zu sein. Das braucht Raum und Unterstützung, besonders jetzt.
Mit welchen Formen von Antisemitismus habt ihr bei eurer Arbeit vor allem zu tun? Wie ist die aktuelle Lage, was antisemitische Vorfälle betrifft?
Die ganze Palette ist immer möglich und kommt vor: Antijudaismus, moderner Antisemitismus, israelbezogener Antisemitismus. Die Sichtbarkeit des Antisemitismus im Bezirk ist auch an die Sichtbarkeit des Judentums gekoppelt. Laut den Meldungen beim Berliner Register oder bei RIAS gibt es die meisten Vorfälle in Bezirken mit Synagogen und jüdischen kulturellen Zentren, wo man auch Jüdinnen*Juden erkennbar im Alltag sieht. In Treptow- Köpenick ist das nicht so. Trotzdem ist der Bezirk, was antisemitische Vorfälle betrifft, im Mittelfeld. Die Zahlen bleiben dabei stabil. Das ist auch der starken rechtsextremen Szene geschuldet, die es hier weiterhin gibt, obwohl viel dagegen gearbeitet wurde. Was israelbezogenen Antisemitismus betrifft: Im Mai 2021 gab es ja in Neukölln und Kreuzberg Proteste, die sehr viele antisemitische Vorfälle mit sich brachten. Durch die aktuellen Ereignisse im Nahostkonflikt gab es in Adlershof dann israelbezogene Propaganda vom Dritten Weg, also aus dem rechtsextremen Spektrum. Beim ersten Laubhüttenfest hatte ich meine erste Begegnung mit einem „Reichsbürger“, der sich auch als solcher zu erkennen gab und die ganze Nachbarschaft zusammenbrüllte. Vor Ort sind rechtsextreme Chats bekannt geworden usw.
Treten auch linke Formen von Antisemitismus im Bezirk auf, zum Beispiel das Denkbild „der große Teufel USA, der kleine Teufel Israel“?
Wenn sie darauf angesprochen werden, dass Antizionismus auch eine Art von Antisemitismus ist, widersprechen viele Menschen vehement. Also ja, diese Formen sind vorhanden.
Gab es bereits gezielte Störungen eurer Angebote? Wurdet ihr bei eurer Arbeit schon mal antisemitisch bedroht?
Vorletztes Jahr wurde zum Beispiel der Chanukka-Leuchter in Adlershof beschädigt. Im selben Jahr wurde eine Person in der Bahn geschlagen, weil sie einen Ohrring mit Davidstern trug. Auf unseren Social-Media-Accounts gibt es immer wieder Drohungen in den Kommentaren – selten, aber es gibt sie. Auch wenn man eine Veranstaltung organisiert, muss man immer damit rechnen, dass etwas passiert. Deshalb ist es immer wichtig, sich vorher mit der Polizei abzusprechen. Von der Begegnung mit einem „Reichsbürger“ habe ich ja schon erzählt. Außerdem wurde ein Plakat für die Aktionswoche zum ersten Laubhüttenfest mit einem Hakenkreuz beschmiert. Beim letzten Laubhüttenfest sagte mir eine Frau, wegen der ganzen „Repression“ im Zuge dieser Pandemie fühle sie sich wie eine Jüdin im Dritten Reich. Ich habe ihr geantwortet, dass man das nicht sagen kann, das ist Shoa-Relativierung und dass mich das direkt verletzt, auch als Jude. Solche Vorfälle gibt es. Manchmal, wenn Menschen sich ganz sicher fühlen, kommen von ihnen schlimme Sachen.
„Nie wieder!“ ist einfach zu sagen. Aktives Gedenken, das von den Menschen selbst gestaltet wird, ist etwas Anderes.
Welche Ansätze in der Arbeit gegen Antisemitismus haben aus deiner Sicht gut funktioniert?
Ein Ansatz sind Fortbildungen zu Antisemitismus mit unterschiedlichen Zielgruppen – in der Bezirksverwaltung, in der Zivilgesellschaft, in Bildungseinrichtungen wie Schulen oder Jugendfreizeiteinrichtungen und auch bei solchen Organen wie der Polizei. Ein anderer Ansatz ist Gedenken – und zwar ein aktives, selbstbestimmtes Gedenken, Stören und Erinnern statt leere Versprechen zu reproduzieren und dann weiterzumachen, als ob nichts wäre. „Nie wieder!“ ist einfach zu sagen. Aktives Gedenken, das von den Menschen selbst gestaltet wird, ist etwas Anderes. Ein dritter Ansatz ist die Erhöhung der Sichtbarkeit und die Förderung von jüdischem Leben. Für mich ist auch die interreligiöse Begegnung wichtig. Ich denke, durch Begegnung ist ein besserer Umgang mit Antisemitismus bzw. ein Abbau von Vorurteilen möglich.
Auf welchen theoretischen Grundlagen basiert deine Arbeit?
Es gibt einige theoretische Definitionen von Antisemitismus, die miteinander konkurrieren. Die bekannteste ist die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA): „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Eine weitere ist aus der Jerusalem Declaration. Sie sind unterschiedlich, aber beide sehr zielführend. Die IHRA-Definition finde ich praktisch, weil es eine Arbeitsdefinition ist. Sie hat keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern einen praktischen Charakter.
Als Sozialarbeiter beziehe ich mich außerdem auf die Grundsätze der Gemeinwesen- und Nachbarschaftsarbeit. Ich achte sehr auf Netzwerke, Beziehungsarbeit und Begegnungsformate – und denke, um Menschen zu erreichen und dazu anzuregen, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, ist es ein Schlüssel, passende Akteur*innen, Orte und Strukturen zu finden.
Antisemitismus ist eine der hartnäckigsten Formen von Menschenfeindlichkeit, die es gibt. Antisemitismus passt sich an und transformiert sich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das wirklich überwinden kann. Vielleicht ist es in dem Sinne eine Aufgabe für die Menschheit, besser zu werden, indem man sich damit auseinandersetzt – ganz im jüdischen Sinne des Tikkun Olam (Heilung der Welt).
Hast du ein Highlight der Arbeit in den letzten vier Jahren?
In jedem Bereich gab es ein anderes Highlight für mich.
Nach zwei Jahren Vorarbeit ist es gelungen, bei verschiedenen Polizeiabschnitten eine Fortbildungsreihe durchzuführen – durch Beziehungsarbeit auf der Direktionsebene, aber auch durch Kontaktaufnahme zu den einzelnen Abschnittsleitungen. Denn damit ein Thema wirklich ankommt, muss es auch von unten kommen.
Gut war auch eine Veranstaltung zusammen mit RIAS in 2022. Es ging um Antisemitismus in Treptow-Köpenick und die Fragen: Wie ist die Lage? Was wird dazu bereits aktiv gemacht? Viele Akteur*innen aus dem Bezirk waren eingeladen. Ziel war es, das Thema sichtbarer zu machen und die Menschen, die schon aktiv sind, zu bestärken.
Im Bereich Gedenken sind für mich die Stolpersteine ein Highlight. Als ich mit meiner Arbeit anfing, gab es bei den Stolperstein-Initiativen in Treptow-Köpenick gerade Umbrüche, sie waren deshalb nicht aktiv. Aber durch eine Kooperation mit dem Zentrum für Demokratie, Beziehungsarbeit, Gespräche, Vernetzungstreffen und Begehungen vorhandener Stolpersteine ist es gelungen, die Arbeit wieder zu reaktivieren. So hat sich zum Beispiel eine Stolperstein-Initiative für Schöneweide gegründet. In Bezug auf Gedenkorte konnten wir zum Beispiel aufzeigen, dass es keine würdige Erinnerung an den ehemaligen jüdischen Friedhof in Treptow-Köpenick gibt. An dem Thema sind wir immer noch dran, denn bisher gibt es nur einen Gedenkstein auf dem privaten Grundstück, auf dem jetzt eine Immobilienverwaltung sitzt. All das ist für mich aktives Gedenken: gemeinsam Orte besuchen, an denen Jüdinnen*Juden früher lebten, das Gedenken mit persönlichen Geschichten von Zeitzeug*innen lebendig machen. Während der Pandemie habe ich digitale Begegnungen organisiert, zum Beispiel ein Gespräch mit einer Shoah-Überlebenden aus Israel und Jugendlichen in Kooperation mit der Jugendeinrichtung Café Köpenick.
Im Bereich der historisch-politischen Bildung hat zum Beispiel vor zwei Jahren ein Netzwerk die Podiumsdiskussion „Jüdische Aktivistinnen damals und heute“ veranstaltet. Auf dem Podium waren drei Frauen aus unterschiedlichen Generationen und unterschiedlichen Richtungen. Es war spannend zu hören, was sie machen, warum sie das machen, und was jüdisches Engagement für sie bedeutet. Ganz aktuell habe ich eine Filmveranstaltung zu Antisemitismus und jüdischem Leben in der DDR organisiert: eine Vorführung des Films „Shalom neues Deutschland – Juden in der DDR“ mit dem Regisseur Tom Franke.
Solche Arbeit braucht Kontinuität, und dafür braucht es eine gute Basis, also ausreichend Unterstützung vom Bezirk.
Was waren Hürden, wenn du auf die letzten vier Jahre zurückblickst?
Eine erste Hürde war es, überhaupt anzufangen – an einem Ort ohne vergleichbare Projekte. So ein Neuanfang bedeutet, erst einmal auf der Suche zu sein, vieles erst einmal ausprobieren zu müssen. Und das zeitgleich mit der Corona Pandemie.
Der Projektcharakter war sowohl eine Hürde als auch eine Ressource des Projekts. Einerseits brachte er eine gewisse Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und die Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen. Aber die begrenzte Finanzierung führte auch dazu, dass ich die meiste Zeit weitere Fördermittel akquirieren und verwalten musste. Die Projektförderung musste jährlich neu beantragt werden. Ich musste mich also damit auseinandersetzen statt mit inhaltlicher Arbeit. Das klaut Zeit und Ressourcen und erschwert die Arbeit.
Auch für die Zukunft ist wichtig: Solche Arbeit braucht Kontinuität, und dafür braucht es eine gute Basis, also ausreichend Unterstützung vom Bezirk.
Wie empfindest du die Situation in Treptow-Köpenick seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023? Wie wirkt sich das auf deine Arbeit aus?
Ich würde sagen, dass es eine sehr schwierige Lage ist. Jüdinnen*Juden haben mit diesem beispiellosen Massaker einen Schlag erlitten. Sie sind auf vier Ebenen davon betroffen. Erstens sind sie als Jüdinnen*Juden persönlich betroffen, denn das war ein Massaker gegen Jüdinnen*Juden, das schlimmste Massaker seit der Shoah: 1400 Menschen wurden von Islamisten ermordet, über 220 Menschen verschleppt und entführt.
Zweitens sind Jüdinnen*Juden von der massiven Zunahme von Antisemitismus hier betroffen. Man traut sich nicht mehr, auf der Straße sichtbar jüdisch zu sein. Als jemand, der aus Israel kommt, ertappe ich mich dabei, dass ich mir überlege, ob es richtig ist, mit meinen Kindern in der Öffentlichkeit weiter Hebräisch zu sprechen. Natürlich mache ich das weiter, aber ich schaue mich ungewollt um, wer in der Nähe ist. Die dritte Ebene ist ein Vertrauensverlust, weil große Teile der progressiven Linken sich so stark einseitig positioniert haben. Da ist wirklich eine sehr große Enttäuschung. Es bedeutet auch einen Verlust von Räumen: Veranstaltungen von Jüdinnen*Juden wurden abgesagt, zum Beispiel im Zenner im Treptower Park. Die vierte Dimension ist: Als Jüdin*Jude, als Mensch, der von Antisemitismus betroffen ist, hatte man mit dem Land Israel in gewissem Sinne eine sichere Insel. Man konnte sagen: Okay, wenn alles schlimm wird, dann gibt es diesen sicheren Ort, wo man hingehen kann. Das ist auch weg – auch in Israel sind Jüdinnen*Juden nicht sicher, und das bringt sehr viel Ohnmacht mit sich. Diese mehrfache Betroffenheit ist bei Jüdinnen*Juden und jüdischen Institutionen spürbar. Zum Beispiel hat mir eine jüdische Frau, die in der DDR groß geworden ist, erzählt, dass sie aktuell zum ersten Mal Angst spürt.
Hier braucht es, denke ich, harte Auseinandersetzung und Dialog, aber auch eine jüdische Positionierung, zu sagen: So geht das nicht. Und es braucht ein Wieder-Aneignen von Räumen.
Wie ist deine Einschätzung: Gab es ausreichend Solidaritätsbekundungen aus der Zivilgesellschaft in Treptow-Köpenick oder auch insgesamt in Berlin?
Nein. Aber ich würde sagen, in Treptow-Köpenick wurde einiges gemacht – symbolisch, aber auch darüber hinaus. Zum Beispiel wurde aus Solidarität die Israel-Flagge vor dem Rathaus Treptow gehisst. Allerdings wurde sie auch ein paar Tage danach geklaut. Die Bezirksverordnetenversammlung hat eine Resolution gegen Antisemitismus verabschiedet. Und wir haben in unseren Veranstaltungen die Situation immer angesprochen. Das Thema wurde also nicht unter den Teppich gekehrt. Es war gut, dass Kundgebungen organisiert wurden, aber es waren zu wenige Menschen da. Das ist auch ein Grund, warum Jüdinnen*Juden enttäuscht sind.
Welche Kooperationspartner*innen sind aus deiner Sicht besonders wichtig, um gegen Antisemitismus vorzugehen und jüdisches Leben präsenter zu machen? Was sind deine Tipps für Menschen in anderen Bezirken, die sich vernetzen wollen?
Wichtige Kooperationspartner*innen in Treptow-Köpenick sind das Zentrum für Demokratie und die Partnerschaften für Demokratie, die Registerstelle im Bezirk, auch das Projekt aras* - Politische Bildung an Schulen. Ebenfalls wichtig ist der Kontakt zum Bezirksamt, auch um dort zum Beispiel intern Fortbildungen anzubieten. Weitere Partner*innen sind Projekte, die mit Schulen arbeiten, und Jugendfreizeiteinrichtungen wie das Café Köpenick. Für Veranstaltungen und um unterschiedliche Menschen zu erreichen, lohnen sich auch Kooperationen mit Nachbarschaftszentren, Museen oder Bibliotheken. Im interkulturellen Bereich gibt es bestimmte Kirchengemeinden, die ganz offen sind. Die Kommunale Ökumene ist auch ein wichtiger Kooperationspartner im Bezirk, um zum Beispiel Veranstaltungen zu organisieren. Überbezirklich arbeite ich u. a. ziemlich eng mit dem Beauftragten für Antisemitismus in Lichtenberg zusammen. Auch mit dem Antisemitismus-Beauftragten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin habe ich zusammengearbeitet. Weitere wichtige Stellen sind das Projekt RIAS, das antisemitische Vorfälle erfasst, und die Fachberatungsstelle für Betroffene von Antisemitismus OFEK. Zu empfehlen sind auch Kooperationen mit dem Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung der ZWST, der ju:an - Praxisstelle der Amadeu Antonio Stiftung und dem Projekt Bildungsbausteine. Für antisemitismuskritische Fortbildung der Polizei ist Regishut ein empfehlenswerter Partner.
Ich finde es sehr wichtig, auf Synergieeffekte zu setzen anstatt dass alle ihr eigenes Süppchen kochen.
Welche Empfehlungen hast du allgemein für Engagierte in anderen Berliner Bezirken?
Ich denke, es ist sehr wichtig, über den Tellerrand zu blicken, also zum Beispiel über die bezirklichen Grenzen hinaus zu schauen, wer schon aktiv ist, was schon gemacht wird, und sich zu vernetzen. Ich finde es sehr wichtig, auf Synergieeffekte zu setzen anstatt dass alle ihr eigenes Süppchen kochen. Man muss wirklich das Rad nicht immer neu erfinden. Und generell: aktiv sein, kreativ sein und dranbleiben, unbedingt!
Das Gespräch führten Bettina Pinzl und Moritz Marc.