Kein Streit ist auch keine Lösung
Interview mit Silke Radosh-Hinder und Christian Staffa
Inwieweit seid ihr in eurer praktischen Arbeit mit einem von rechts propagierten christlich-abendländischen Wertebild konfrontiert?
Silke Radosh-Hinder Ich kann zum Beispiel auf Veranstaltungen einschlägiger Parteien oder Bewegungen mit Plakaten zum christlichen Wertebild, das in der Regel auf einer antimuslimischen Folie agiert, konfrontiert sein. Im Gemeindealltag passiert das eher selten in dieser populistischen Plattheit, zumindest in den Berliner innerstädtischen Gemeinden. Dazu kommt, dass wir nicht unbedingt diejenigen sind, bei denen man ausprobiert, ob eine rechtspopulistische Position Bestätigung findet. Denn diese Positionen sind nicht immer auf den massiven Gegenwind ausgerichtet, sondern wollen erst einmal eine Solidarisierung finden. Vielleicht werden wir deshalb nicht so viel damit konfrontiert. Was aber nicht heißt, dass das Reden von christlichen Werten nicht anschlussfähig ist. Vor allem weil es leicht ist, christliche Werte im Gegensatz zu etwas anderem zu setzen. Im Subtext können dann antimuslimische Stereotype transportiert werden.
Die Frage ist, welche Positionen sind anschlussfähig? Christliche Werte werden inhaltlich verbunden mit Menschenrechten, mit demokratischen Rechten und Frauenrechten. Mitnichten ist eines dieser Werte eine christliche Erfindung. Nun kann man sagen, das ist schön, dass man sich diese demokratischen Werte nachträglich zu Eigen gemacht hat. Die Gefahr ist aber, dass diese Werte quasi nur oben drüber liegen und nicht wirklich stabil verankert sind. In dem Moment, wenn sich gesellschaftliche Werte wieder umdrehen, im Populismus, bleibt dann vielleicht automatisch nicht so viel von den demokratischen Werten übrig.
Christian Staffa Ich sehe Weihnachten 2014 das von Pegida-Anhänger*innen mit der Deutschlandfahne umwickelte Kreuz vor mir. Die zugrunde liegende Abendland-Rhetorik wäre auch im deutschen Protestantismus anschlussfähig, nicht so platt, aber doch in Bezug auf sogenannte christliche Werte. Aber was beinhaltet die Rede von „christlichen Werten“ alles, von sehr bildungsbürgerlichen Bildern bis hin zu rechtspopulistischen? Es ist in meinem Alltag in der Evangelischen Akademie zu Berlin extrem selten, das Leute so etwas vor sich hertragen. Und trotzdem gibt es da ein komplexes Problem.
Das christliche Abendland trägt eine große Gewaltgeschichte mit sich herum. Durch die Kirchengeschichte hindurch gab es aber auch immer wieder Kräfte, die sich auf die partizipativen, egalitären Elemente der Heiligen Schrift beriefen. Es gibt da eine Verbindung, die aber nicht in der Formulierung christliches Abendland aufgeht. Im Antikommunismus der jungen Bundesrepublik spielt der Terminus des christlichen Abendlandes eine Riesenrolle, und so taucht es im AfD-Programm wieder auf. Athen – Rom – Golgatha, das sagt Theodor Heuss schon in den Fünfzigerjahren, das ist es, was uns verbindet gegen die Kommunisten. Neu ist, dass diese Werte gegen die liberale Demokratie in Stellung gebracht werden.
Das christliche Abendland trägt eine große Gewaltgeschichte mit sich herum.
Silke Radosh-Hinder Ich nehme zumindest im Moment aber auch eine ziemlich klare Positionierung von kirchlicher Seite gegen Populismus wahr. Und eine sehr klare Eindeutigkeit darin, dass es Positionen gibt, mit denen man nicht mehr Teil der Kirche sein kann. Das ist ein Novum, dass Kirche dies so klar äußert. Es gibt die Hoffnung, dass die protestantische Kirche vom Nationalsozialismus gelernt oder zumindest wahrgenommen hat: Es gibt keine intrinsische Sicherheit, totalitären Systemen nicht zu verfallen. Hier braucht es eine klare Aktivität von Seiten der Kirchen. Und ich sehe bei den Menschen, die Mitglied in den innerstädtischen Gemeinden der Kirche sind, ein klares Votum zu Unterstützung und Solidarität mit Geflüchteten. Auf der anderen Seite geben Studien auch Anlass zur Sorge, nämlich dass christlich geprägte Menschen keinesfalls automatisch immun gegen menschenverachtende Positionen sind.
Welche Beispiele guter Praxis gibt es in der Gemeindearbeit und darüber hinaus, um Haltung gegen Theorien der Ungleichwertigkeit zu zeigen? Wo in der Kirche wären Ansatzpunkte für gute Praxis?
Christian Staffa Umfragen zeigen, dass das Wahlverhalten von Christ*innen gegenläufig zur eigenen Einstellung ist. Bundesweit wie in Sachsen-Anhalt wählten Christ*innen um 50 Prozent seltener die AfD als andere Wähler*innen, trotz der vermeintlich größeren Affinität zu deren Inhalten. Natürlich gibt es auch in der Kirche „bauchige“ Kritik an der Führungsebene, ähnlich der vulgären Politiker*innenschelte. Aber es gibt eine Hemmung, da die Führung – katholisch wie evangelisch – an den meisten Stellen klar Position bezieht. Ein gutes Beispiel ist also eine stabile, klare Positionierung der Führungspersonen.
Die Frage ist doch, welchen Anteil wir daran haben, wie es gerade in der Welt zugeht? Kirche hat eine Sprache entwickelt nach dem Motto: Du denkst das, ich denke das und wir sind total liberal. Doch unterwegs haben wir die Theologie verloren. Und zwar auch bei Kernbegriffen, wie zum Beispiel dem der Sünde: Wo verfehle ich mich? Wir Christenmenschen sind nicht frei von z. B. Rassismus oder Sexismus. Der Sündenbegriff würde hier Solidarität ermöglichen, bei gleichzeitiger Benennung der Verfehlung.
Angst ist Sünde, weil sie ein Um-Sich-Selbst-Kreisen bedeutet und eigentlich Besitzstandswahrung ist. Angst als Motivation von Rassismus sieht nur die Bedrohung des eigenen Landes, des eigenen Reichtums und diese Selbstbezogenheit ist extrem nicht-christlich. Leider haben wir keine Begriffe – auch nicht auf säkularer Seite für unsere schuldhafte Verstrickung in die Unterdrückung anderer Kontinente, in Hunger und Tod auf der Welt. Wir betrügen uns darum und das ist problematisch, weil wir so nicht mehr handlungsfähig sind.
Silke Radosh-Hinder Ich finde es fatal, dass wir den Begriff der Visionen aufgegeben haben. Als christliche Gemeinschaft könnten wir Visionen für eine andere Welt einbringen. Das konnten wir ganz gut, aber wir haben es aufgegeben. Und wenn es keine Vision oder Utopie mehr gibt, wo man hinkönnte, dann sind die Menschen nur noch daran interessiert, was sie jetzt bewahren können. Gleichzeitig bin ich immer noch begeistert, was seit 2015 alles möglich ist. Es ist ein Narrativ in der Zeit entstanden, das besagt, dass es etwas gibt, das wir zurückgeben können. Doch die Kirche ist zu stark der Wohlfahrt verhaftet geblieben: „Wir kümmern uns um euch“ – aber es gab keinen / wenig partizipativen Charakter und wenig Hinterfragen der rassistischen Anteile in der Wohlfahrtsarbeit. Da sind wir was schuldig geblieben.
Wie ist eure Bewertung des interreligiösen Dialogs im Kontext des propagierten Rechtsrucks in der Gesellschaft?
Silke Radosh-Hinder Es gibt nicht den interreligiösen Dialog. Ich spreche lieber von interreligiösen Formaten, die auch ganz unterschiedliche Zielrichtungen haben. Es gibt zum Beispiel Gruppen, die treffen sich zum Wissenstransfer: Was glaubst du? Was glaube ich? Ein ganz klassisches Format, mit dem viele Menschen großartige Erfahrungen verbinden. Interreligiöser Dialog ist hier eng verbunden mit einer gesellschaftlichen Haltung und einem Gefühl von Solidarisierung. Und dann gibt es zunehmend Formate, die fragen, was können wir gemeinsam machen? Es gibt interreligiöse Chöre, das House of One und andere Beispiele. Religiös gebundene Menschen tun sich zusammen, um gemeinsam ein Signal zur Verbesserung der Gemeinwohlsituation zu setzen. Das ist ein kraftvolles Zeichen an die Gesellschaft, wenn die, die als unvereinbar gelten, gemeinsam etwas tun. Das vermittelt eine Vision. Deshalb glaube ich, dass z. B. auch Parteien, die sich mit Religion schwertun, mit interreligiösen Initiativen durchaus etwas anfangen können.
Konflikte müssten auf den Tisch im interreligiösen Dialog.
Christian Staffa Die Gefahr, die ich sehe, ist folgende: Interreligiöse Formate können davon ablenken, dass Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit gesamtgesellschaftliche Probleme sind, die keine realen Juden oder Muslime brauchen. Man findet sich gut, wenn man miteinander redet, kommt aber nicht an die projektiven Anteile von Antisemitismus bzw. Muslimfeindlichkeit ran. Interreligiöse Formate als Tool gegen rechts bzw. gegen Rassismus auf dieser symbolpolitischen Ebene könnten die Kehrseite haben, dass sie die Auseinandersetzung mit den eigenen Positionen verhindern.
Christlich-jüdische Gespräche sind zudem kompliziert, denn nicht wenig jüdische Menschen haben andere existenzielle Ängste vor muslimischem Antisemitismus als Christ*innen. Das dramatisiert die Situation des Gesprächs noch mal sehr, auch in Verbindung mit dem Thema Israel. Die Bedrohung durch die Nachbarländer Israels wird hier in Deutschland oft unterschätzt. Und es gab zu lange ein Ausweichen vor dem Antisemitismus in der muslimischen Community. Und gleichzeitig gibt es in Teilen der christlichen Community einen Schulterschluss mit jüdischen Stimmen, die sich deutlich zu Antisemitismus positionieren. Das Gelände ist extrem kompliziert. Aber genau diese Themen und Konflikte müssten auf den Tisch im interreligiösen Dialog.
Silke Radosh-Hinder Auch die Zusammenarbeit mit muslimischen Communities ist in den letzten Jahren schwieriger geworden. Nationale Interessenlinien, z. B. in der Türkei, haben die Zahl der repräsentativen, kooperationsfähigen und -willigen Vereine und Organisationen verengt. Und ich kenne wenige große Initiativen, die nicht früher oder später durch kritische Mediendiskurse eingeschüchtert wurden. Zudem ziehen wir uns auch ganz gerne heraus mit der Argumentation: „Wir haben nichts zu tun mit muslimischen Antisemitismus, können aber gerne Gespräche moderieren.“ Diese Haltung zeigt sich auch im Konflikt Israel und Palästina: Da haben wir angeblich auch nichts mit zu tun, weil die Shoah und der Nationalsozialismus schon so lange vorbei sind bzw. wir so viel daraus gelernt haben. Diese unreflektierte Haltung macht die Zusammenarbeit sehr viel komplexer. Und davon nehme ich mich selbst keinesfalls aus.
Christian Staffa Aber trotzdem müssen wir weiter das Gespräch suchen und im Gespräch bleiben! Muslimfeindlichkeit auf Seiten der Lehrkräfte ist dramatisch gestiegen. Kinder suchen einen Platz zum Beten in Schulen und gehen zum Hausmeister, weil es keinen Raum zum Beten gibt, außer im Keller. Dieses Lebensgefühl führt zu einer Verhärtung auf allen Seiten.
Silke Radosh-Hinder Und gerade auf dieser Ebene könnten interreligiöse Formate eine wichtige Funktion haben. Vor allem dann, wenn wir ansonsten nicht viel miteinander zu tun haben, schaffen interreligiöse Formate Einblicke in das Leben anderer Menschen. Denn sie gehen einher mit einer großen Verlässlichkeit und Wohlwollen, mit einer Empathieleistung über die eigene Gruppe hinaus und bringen eine öffentliche Solidarisierung mit sich.
Was brauchen gelingende interreligiöse Formate?
Silke Radosh-Hinder Meine Überzeugung ist, interreligiöse Formate mit Hand und Kopf zu machen. Die Frage ist doch, wie wir in dieser Welt zusammenleben wollen? Diese Frage interessiert mich und die Erfahrung, etwas verändern zu können mit Menschen, die unterschiedlich sind, ist ein Motivationstrigger. Davon kann hochvisionäres Potenzial ausgehen. Da steckt Hoffnung drin, die wir sonst in der Gesellschaft nicht so oft haben. Interreligiöse Formate sind anschlussfähig in Gesellschaft und Politik, weil sich darüber das Neutralitätsgebot wahren lässt, da ich bei interreligiösen Gruppen nicht nur mit einer Religion zusammenarbeite.
Uns fehlt ganz oft die Arena der politischen Überzeugungen, wo wir über Positionen verhandeln.
Christian Staffa Für einen gelingenden Dialog brauche ich die Bereitschaft, die eigene Identität zu öffnen. Das meint nicht Differenz zu leugnen, vielmehr ein Prozess der Änderung und Öffnung durch die Wahrnehmung der anderen. Gelingende interreligiöse Formate sind mehr als reine Selbstbestätigung, sondern haben eine revolutionäre Dimension. Interreligiöser Dialog ist dann hochpolitisch und demokratisch, wenn Menschen sehen, dass sie sich in der Begegnung mit dem anderen verändern können, dass nichts festgefügt ist.
Silke Radosh-Hinder Interreligiöse Formate dürfen aber keine Ausrede sein, um sich nicht mehr mit anderen gesellschaftlichen, atheistischen Gruppen auseinanderzusetzen. Wir können nicht nur die Nähe zu Menschen suchen, die wir als religiös betrachten, um vielleicht auch unseren eigenen religiösen Fußabdruck gesellschaftlich zu untermauern. Gerade in der Arbeit gegen Rechtspopulismus, für die Stärkung der Demokratie ist doch die übergreifende Frage, wer unsere Verbündeten sind, um die Gesellschaft demokratisch zu erhalten.
Was gebt ihr uns auf den Weg mit?
Christian Staffa Laut dem Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer lehrt uns die Geschichte des Nationalsozialismus, dass der Fokus auf die Haltungsfrage nichts nützt. Haltung funktioniert nicht auf Dauer, sie kann sich ändern, wenn sich die gesellschaftlichen Umstände ändern. Und dann ändert sich auch die Praxis. Günther Anders, Philosoph und Schriftsteller, hat mal gesagt, wir brauchen gymnastische ethische Übungen. Darum könnte es gehen im interreligiösen Dialog: Im gemeinsamen Einüben demokratischer Einstellungen. Bei der Analyse von Gewaltprozessen und -exzessen lässt sich beobachten, dass auch das Böse eingeübt werden muss. Denn auch unmoralisches Verhalten ist nicht einfach da, sondern braucht Übung. Das sieht man auch bei Pegida, wie schnell dieses Einüben geht. Und als 2015 die Geflüchteten zu uns kamen, hat das Einüben des Guten auch funktioniert.
Silke Radosh-Hinder Ich glaube, wir müssen viel mehr Koalitionen eingehen. Wir müssen enge Verbindungen knüpfen, wo dieses Einüben passieren kann. Dabei sollten wir über die eigenen Begrenzungen hinweggehen und Berührungsängste abbauen. Wir sollten uns überraschen lassen, wer plötzlich an unserer Seite steht.
Christian Staffa Wir haben einen großen Harmoniebedarf und der hat seine Kehrseiten. Kein Streit ist auch keine Lösung. Gerade weil wir vor existenziellen Fragen stehen.
Silke Radosh-Hinder Wenn es aber kein Bewusstsein mehr darüber gibt, ob wir noch eine gemeinsame Bezugsgröße haben, z. B. gibt es den Klimawandel? Wenn alles gleichwertig gehandelt wird – Leugnung und wissenschaftliche Erkenntnis – weil es keinen Bezug mehr auf etwas Gemeinsames, auf „Wahrheit“ gibt, dann wird es schwierig. Dann wird die Position der Leugnung auch gefährlich.
Christian Staffa Trotzdem existieren diese Positionen und wir müssen damit umgehen. Ein Jammern darüber ist sinnlos.
Silke Radosh-Hinder Uns fehlt ganz oft die Arena der politischen Überzeugungen, wo wir über Positionen verhandeln. Und dann, wenn alles gleichwertig ist, bleibt nur noch der Eliminationsgedanke der anderen Position.
Christian Staffa Es gehört zur gymnastischen Übung, sich zu fragen, was passiert, wenn ich eine Gegenposition im Raum habe und machtlos bin. Wie komme ich zu einem Diskurs, der andere Positionen zulässt und trotzdem streitbar ist.
Das Interview führten Lina Respondek, Bettina Pinzl und Marcel Dieckmann.