Nachgefragt!
  • Interviews
#14

Ulf Balmer ist seit 2017 Projektkoordinator der Mobilisierungsplattform Berlin gegen Nazis und zudem seit 2018 als mobiler Berater bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) tätig. Er studierte Philosophie und Politikwissenschaft und arbeitete anschließend über viele Jahre als Führungskraft in einem Berliner Medienunternehmen. Er beschäftigt sich seit den frühen 90er Jahren mit Strategien im Umgang mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.

Grund­rechte ver­teidigen – mit Rechts­extremen?

Ein Interview zu den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen mit Ulf Balmer (MBR Berlin)

Aufgrund der Corona-Pandemie und der folgenden Einschränkungen gab es bisher verschiedene Proteste. Angefangen hatten diese am Rosa-Luxemburg-Platz ab Ende März / Anfang April. Wer kam denn zu diesen Veranstaltungen? Wie würdest du die Situation auf dem Rosa-Luxemburg-Platz beschreiben?


Zunächst waren das keine angemeldeten Kundgebungen. Zu dem Zeitpunkt waren angemeldete Kundgebungen rechtlich gar nicht möglich. Die Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand, einige Leute vom Rand des Berliner Kulturbetriebes, die sich selbst politisch eher links verorten, hatten dazu aufgerufen und angefangen, eine Zeitung zu produzieren. Bereits in der ersten Ausgabe haben sie die Corona-Pandemie in ihrer Gefährlichkeit geleugnet und mit verschwörungsideologischen Welterklärungen argumentiert. Mittlerweile schreiben sie, wenn sie über die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie berichten, vom 4. Weltkrieg gegen die Bevölkerung.

Am Rosa-Luxemburg-Platz kam eine diffuse Mischung von Menschen zusammen, welche u. a. die Leugnung der Corona-Pandemie einte. Anfangs waren viele Menschen darunter, die einfach nur Bedenken wegen der strikten staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hatten und beunruhigt waren, da das normale Leben außer Kraft gesetzt wurde.

Wir haben „rechtsoffene Versammlungen“ als analytischen Begriff für diese Veranstaltungen gewählt. Vor Ort waren Menschen aus der Künstler*innenszene, Impfgegner*innen, Menschen, die glauben, dass Handystrahlungen schlecht für sie sind, andere, die eher hippiesk aussahen - bis hin zu Rechtsextremen, Reichsbürgern und verurteilten Holocaust-Leugnern. Da es auf dem Rosa-Luxemburg-Platz keine Organisationsstruktur gab, keine Redner*innen, keine Bühne, waren sehr schnell rechtsextreme oder verschwörungsideologische YouTube-Blogger diejenigen, die als erkennbare Struktur erschienen. Diese sind mit ihren Smartphones herumgelaufen und produzierten Live-Streams. Sie nutzten die Anwesenden zum Teil als Statisten, um ihre eigene Agenda zu vermarkten.

Was diese Versammlungen bis heute vereint, ist eine Leugnung der Gefahr der Pandemie.

Zugleich kann man aber nicht sagen, dass diese Versammlungen rechtsextreme Veranstaltungen waren. Bis heute ist es ein Querschnitt der Gesellschaft, der sich nun zumeist im Regierungsviertel versammelt. Oft mit wenig konkreten Positionen. Was diese Versammlungen bis heute vereint, ist eine Leugnung der Gefahr, die durch die Corona-Pandemie ausgeht. Zugleich wird ein Gefühl von „wir hier unten und die, die uns beherrschen“ vermittelt und es herrscht Skepsis gegenüber etablierten Medien und Wissenschaftsfeindlichkeit. Es gab allerdings nie wirklich Abgrenzungen von den anwesenden Rechtsextremen. Diese nutzten den Raum und die Akzeptanz einer größeren Menge an protestierenden Menschen, übernahmen später in dynamischen Situationen die Führung, griffen die Polizei an und erhielten Unterstützung aus der umstehenden Menge. Das haben wir in Berlin erstmals am 9. Mai beobachtet. Am 18. November kam es dann in größerem Rahmen zu solchen Situationen.

Auf der ersten Großdemo am 01. August 2020 kamen zehntausende nach Berlin. Es kam ein, wie du meintest, Querschnitt der Gesellschaft. Wie kann diese Demonstration gesehen werden? War dies „nur“ eine exponentiell größere Variante des Rosa-Luxemburg-Platzes?

Die Großdemonstrationen am 01. August und auch die am 29. August in Berlin müssen unterschieden werden von denen, die im Frühjahr am Rosa-Luxemburg-Platz stattfanden. Die Versammlungen am Rosa-Luxemburg-Platz waren lokale Berliner Proteste. Dagegen gab es sehr viele Positionierungen von Anwohner*innen, von Initiativen und Gegenprotesten, was dazu geführt hat, dass sie den Rosa-Luxemburg-Platz verlassen mussten. Es ging erst in Richtung Alexanderplatz und dann ins Regierungsviertel. Allerdings ebbten die Proteste im Frühsommer in Berlin ab.

Am 1. August gab es eine erste bundesweite Mobilisierung, die nicht aus Berlin organisiert wurde. Die Hauptveranstalter von Querdenken 711 kommen aus Stuttgart und hatten zuvor schon Kundgebungen in Süddeutschland durchgeführt. Auch hier können die Organisator*innen nicht als rechtsextrem, in ihrem Handeln aber wiederum als rechtsoffen bezeichnet werden, denn auch sie haben sich nie glaubwürdig von Rechtsextremen distanziert.

Gleichzeitig verbreiten viele Redner*innen auf diesen großen Versammlungen auch selbst Verschwörungsideologien. Die wesentliche Grundlage dieser Erzählungen ist die einer Elite im Hintergrund, die die Welt lenkt: Also klassische Verschwörungsideologien, die letztendlich fast immer auch antisemitische Codierungen enthalten. Damit ist auch inhaltliche Anschlussfähigkeit für Rechtsextreme gegeben.

Aber worin liegt die Gefahr? Wenn viele aus einem verschwörungsideologischen Hintergrund kommen, die kein geschlossenes rechtsextremes Weltbild besitzen, und einzelne Goa-tanzende Hippies sind, da sind doch die realen Schnittmengen gar nicht vorhanden. Worin besteht die Gefahr, dass es diese Events gibt?

Zunächst einmal ist dies eine Form der Normalisierung, die dort stattfindet. Am 29. August konnten sehr viele Reichsfahnen beobachtet werden, also klassische Insignien des Reichsbürgerspektrums, aber auch von Neonazis, die dort von sehr vielen Menschen getragen wurden. Die Reichsfahne symbolisiert die Ablehnung der BRD und damit der Demokratie. Das hat bei den Teilnehmenden zu keinerlei Abgrenzungen oder Unmut geführt, auch räumliche Abgrenzungen gab es quasi nicht. Vielmehr wurden die Veranstaltung gemeinsam durchgeführt, wir sprechen auch aus diesem Grund für die Veranstaltungen im August von verschwörungsideologischen Bündnisveranstaltungen, auf denen zur Normalisierung von Rechtsextremen- und Reichsbürgerideologien, vor allem aber auch Antisemitismus beigetragen wird.

Du hast ja die Reichsbüger angesprochen. Angenommen ich beschäftige mich jetzt nicht so viel mit Politik und bin vielleicht das erste Mal auf einer solchen Demonstration, denke mir nichts Schlimmes dabei und denke mir wahrscheinlich sogar, ich tue das Richtige. Wie erkenne ich denn Reichsbürger?

Erkennbar sind sie an der erwähnten schwarz-weiß-roten Symbolik. Was wir bereits auf dem Rosa-Luxemburg-Platz, aber auch auf den Großdemonstrationen im August beobachten konnten, ist, dass Reichsbürger ein sehr großes Mitteilungsbedürfnis haben. Sie stehen da, fangen Gespräche an und verbreiten offensiv ihre Welterklärung gegenüber Umstehenden. Dieses starke Sendungsbewusstsein ist ein klassisches Phänomen bei Reichsbürgern, denn sie glauben, die Wahrheit erkannt zu haben und dass alle anderen noch “schlafen“. Die Reichsbürger wollen, dass auch andere Menschen „aufwachen“. Formulierungen wie „Schlafschafe“ sind ein deutliches Indiz, dass der Gesprächspartner Reichsbürger sein könnte.

Dieses starke Sendungsbewusstsein ist ein klassisches Phänomen bei Reichsbürgern.

Die Reichsbürgerideologie beinhaltet zudem die Behauptung, dass die BRD kein souveräner Staat sei, dass es nie einen Friedensvertrag gegeben hätte, wir uns also eigentlich noch im Zweiten Weltkrieg befinden. Dazu kommt die Erzählung, dass die Institutionen der BRD eigentlich Unternehmen seien und das ganze Land eine BRD GmbH sei. Die Polizei wird etwa mit privaten Sicherheitsdiensten gleichgesetzt. Wenn man so etwas hört, sollte einem klar sein, dass dies mit der Realität, in der wir leben, nicht so viel zu tun hat. Und vor allem dann nicht, wenn man für Grundrechte auf die Straße geht, wie das ja viele Menschen auf diesen Demonstrationen vorgeben zu tun.

Dadurch aber, dass sie mit Menschen protestieren, deren Ziel es ist, diese Grundrechte abzuschaffen, die die Existenz der BRD und des Grundgesetzes leugnen, begeben sie sich in einen Selbstwiderspruch. Die Reichsbürger und Rechtsextremen wollen genau die Grundrechte abschaffen, für deren Erhalt die anderen vermeintlich auf die Straße gehen.

In der Mobilisierung und auf den Demonstrationen taucht auch immer der Begriff der Freiheit auf und die Angst vor der Einschränkung der persönlichen Freiheit. Um was für ein Freiheitsverständnis handelt es sich denn da? Denn ein erster grober Blick auf diesen Begriff, wie er verwendet wird, scheint ja eine egoistische, neoliberale Auslegung des Begriffes zu sein. Wie würdest du das einschätzen? Ist der Begriff ein Bindeglied zwischen den ganz unterschiedlichen Teilnehmenden?

Freiheit war der dominierende Begriff am 1. August und auch am 29. August 2020. Häufig wurde „Wir sind der Souverän” skandiert oder es wurde ein Friedensvertrag gefordert. Es wird demnach schon eine Interpretation des Begriffs „Freiheit“ genutzt, die sich an der Reichsbürgerideologie orientiert, wie eben beschrieben. Auch auf der Hauptbühne auf der Straße des 17. Juni wurde das Reichsbürgerthema „Friedensvertrag“ explizit angesprochen und damit zugleich die Legitimität des Grundgesetzes angezweifelt.

Die Euphorie der Teilnehmenden in der Weigerung, MNS zu tragen, zeugt von einem egoistischen Freiheitsbegriff.

Auf der anderen Seite geht es bei diesem Protestphänomen sehr stark um das Gefühl, nicht mehr das tun zu können, was man gewohnt war zu tun. Die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie sehen vor, Abstände einzuhalten, Mund-Nasen-Schutz zu tragen etc. Dies wird als Einschränkung der gewohnten persönlichen Freiheit verstanden, was sie ja auch sind. Sie sind jedoch begründete Maßnahmen zur Eindämmung einer gefährlichen Krankheit. Dieser Umstand hat für die Protestierende jedoch keine Relevanz, da sie die Gefährlichkeit der Krankheit leugnen. Die Demonstrationen finden vielmehr mit dem Ziel statt, die Regeln zu brechen, kollektiv keine MNS zu tragen oder Abstände nicht einzuhalten. Die mehrfach von uns beobachte Euphorie der Teilnehmenden in der gemeinsamen Weigerung, MNS zu tragen, zeugt von einem sehr egoistischen Freiheitsbegriff. Solidarität mit z. B. Risikopatient*innen oder einfach nur Rücksicht hat in diesem „Wir-Gefühl“ und der Freiheit, die sie auf ihren Versammlungen anrufen, keinen Platz.

Und trotzdem gibt es ja das verständliche Bedürfnis das Versammlungsrecht zu nutzen, um gegen die Einschränkungen zu demonstrieren, weil ich vielleicht gegen die Uneinheitlichkeit der Vorgaben bin oder weil ich den Mund-Nasen-Schutz nicht als adäquates Mittel zur Bekämpfung der Pandemie sehe. Soll ich mich jetzt von allen Demonstrationen fernhalten oder was würdest du denjenigen raten, die eine berechtigte Kritik äußern möchten?

Die Kritik sollte in einem Rahmen geschehen, der diese nicht untergräbt und sich nicht mit rechtsextremen oder verschwörungsideologischen Zielen gemein machen. Wenn ich Kritik an den Einschränkungen z. B. für Unternehmen üben will oder für Grundrechte demonstrieren möchte, kann ich dies im Rahmen des Versammlungsrechts tun. Es können Demonstrationen organisiert werden, wo man das vertreten kann, was man mit anderen zusammen vertreten möchte. Wenn man aber auf Demonstrationen geht, die von Verschwörungserzählungen dominiert sind oder auf denen große Gruppen von Neonazis akzeptierter Teil der Versammlung sind, dann muss man sich, wenn man das mitbekommt, davon entfernen. Denn sonst untergräbt man seine eigene Glaubwürdigkeit. Eines der Hauptziele von Rechtsextremen ist es ja unter anderem die Grundrechte abzuschaffen, dafür nutzen sie natürlich auch gerne das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit.

Wenn es jetzt in Berlin zu weiteren größeren rechtsoffenen Demonstrationen kommen wird, was würdest du als Berlin gegen Nazis den Berliner*innen empfehlen, die sich dagegen engagieren wollen?

Die vorherigen Einschätzungen basieren auf der Grundlage der Beobachtungen und der Analysen der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin - MBR. Bei der Einschätzung zu Gegenprotesten spreche ich aus dem Blickwinkel der Mobilisierungsplattform Berlin gegen Nazis. Positionierungen und Proteste gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sind sehr wichtig, damit Berlin vielfältig bleibt. Wenn sich Menschen aktuell gegen die verschwörungsideologischen Versammlungen engagieren wollen, empfehlen wir zu schauen, ob es im eigenen Umfeld bereits Initiativen gibt, die sich engagieren und gemeinsame Protestformen entwickelt haben, denen man sich dann anschließen kann. Wer sich orientieren will, aber selbst die Initiatiavenlandschaft nicht überblickt, kann sich gern bei Berlin gegen Nazis melden und wir geben dann Tipps zur Orientierung.

Am 29. August und am 18. November haben wir gesehen, dass eine große Anzahl Rechtsextremer, auch Gewaltprofis aus der Kampfsportszene oder Hooligans, vor Ort waren. Zudem sind auch die verschwörungsideologischen Versammlungen insgesamt durchaus aggressiv gegenüber denjenigen, die von ihnen als Feinde markiert wurden. Das reicht von Pressevertreter*innen, potentiell als Gegenprotestteilnehmer*innen gelesene Menschen, bis hin zu Träger*innen von MNS. Daher ist auch die Frage des Schutzes relevant, wenn man sich entscheidet, sich an Gegenprotesten zu beteiligen. Wie sicher kommt man zu den Gegenprotesten, wie sicher ist der Gegenprotest? Dies ist abhängig davon, was man sich selbst zutraut. Auch die Frage, wie man sich selber unter COVID-19-Bedingungen an einem Protest beteiligen kann, mit Abstand, ohne andere in Gefahr zu bringen. Es lohnt sicherlich, sich auf www.berlin-gegen-nazis.de über die aktuelle Situation rund um einen solchen Demonstrationstag zu informieren, zu schauen welches Protestkonzept zu einem passt und dann mit Freunden zu entscheiden, was man tut.

Vielen Dank!

Das Interviewt führte Andreas Ziehl von der Fach- und Netzwerkstelle [moskito].

Ulf Balmer ist seit 2017 Projektkoordinator der Mobilisierungsplattform Berlin gegen Nazis und zudem seit 2018 als mobiler Berater bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) tätig. Er studierte Philosophie und Politikwissenschaft und arbeitete anschließend über viele Jahre als Führungskraft in einem Berliner Medienunternehmen. Er beschäftigt sich seit den frühen 90er Jahren mit Strategien im Umgang mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.

  • Zur Reihe
  • Impressum & Datenschutz