Digitale Zivilgesellschaft stärken!
Interview mit Antonia Graf und Teresa Sündermann vom Projekt Civic.net – Aktiv gegen Hass im Netz der Amadeu-Antonio-Stiftung
Was genau versteht Ihr unter „digitaler Zivilgesellschaft“ und Zivilcourage im Netz?
Antonia: Grundsätzlich sollte niemand Angst vor Hasskommentaren haben müssen, die sich gegen zugeschriebene oder tatsächliche Identitätsmerkmale wie Herkunft, Religion, Geschlechtsidentität und Begehren richten. In den letzten Jahren haben wir beobachtet, dass offline viele zivilgesellschaftliche Akteur:innen sehr gut organisiert sind. Online sind ihre Stimmen aber noch sehr zaghaft. Manchmal, weil praktische Handlungstipps oder das nötige Wissen fehlen. Häufig liegt es aber auch daran, dass Soziale Netzwerke als weniger wichtig empfunden werden als die analoge Welt. Beispielsweise kommt es selten vor, dass ein Neonazi-Aufmarsch ohne Gegenproteste stattfindet. Aber in Sozialen Netzwerken werden Nutzer:innen, ganze Gruppen oder Institutionen täglich beschimpft und belästigt. Betroffene fühlen sich dort häufig allein gelassen. Es wäre wichtig, dass sich aktive Menschen angesprochen und aufgefordert fühlen, in solchen Situationen einzuschreiten und auch online zivilcouragiert zu handeln. Eine aktive digitale Zivilgesellschaft muss online genauso zivilcouragiert engagiert sein gegen Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus wie auf der Straße, in Betrieben oder in den Parlamenten. Civic.net gibt es, um genau diese digitale Zivilgesellschaft zu stärken und unterstützen.
Welche Formate bietet Ihr für Akteur:innen der Zivilgesellschaft an?
Teresa: Civic.net – Aktiv gegen Hass im Netz ist 2017 als ein Projekt der Amadeu-Antonio-Stiftung entstanden. Die Idee war, Organisationen und Einzelaktive in ihrem demokratischen Engagement auch online zu unterstützen. Oft ist es ja so, dass gerade zivilgesellschaftliche Akteure für ihr demokratisches Engagement online angefeindet werden. Sie erleben Hate Speech, gezielte Diffamierungskampagnen oder Shitstorms. Das haben wir selbst oft genug in unserer Arbeit erfahren. Wir vermitteln mit Beratungen, Vorträgen und Workshops Wissen und praktische Handlungsstrategien. Vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen sind wichtige Multiplikator:innen, die auf ihren eigenen Social Media-Präsenzen einen diskriminierungssensiblen Meinungsraum für alle herstellen können. Aktuell vermitteln wir in Workshopformaten hauptsächlich, wie gute Moderationsarbeit und ein aktivierendes Community Management gelingen kann, wie man durch Phasen von Online-Anfeindungen und Shitstorms als Organisation kommt oder wie eine engagierte Social Media-Arbeit trotz oft wenig vorhandener Ressourcen funktionieren kann.
Wie kann zivilgesellschaftliches Engagement online konkret aussehen?
Teresa: Zivilgesellschaftliches Engagement kann online sehr unterschiedlich aussehen. Sinnvoll kann meist eine Unterscheidung danach sein, ob ich mich als Einzelperson oder als Organisation, Bündnis oder Verein engagiere? Wenn mir als Einzelperson Hate Speech, Desinformationen oder rechtsradikale Propaganda zum Beispiel in öffentlichen Facebook-Gruppen oder in der Whatsapp-Gruppe meines Sportvereins auffallen, kann ich diese entweder kommentieren, sie beim Netzwerk und dem Gruppen-Admin melden oder sogar bei der Polizei anzeigen, wenn es sich um strafbare Inhalte und Äußerungen handeln. Eine Anzeige setzt voraus, dass ich einschätzen kann, ob etwas strafbar ist oder nicht – das ist für Laien häufig schwierig. Es gibt aber auch Gründe, aus denen heraus einige Menschen keinen Kontakt zur Polizei aufnehmen wollen. In diesen Fällen kann ich mich sehr niedrigschwellig an die “Internetmeldestellen” wenden. Das sind zivilgesellschaftliche Stellen, die mit Jurist:innen zusammenarbeiten, welche die gemeldeten Inhalte rechtlich überprüfen und diese dann ggf. zur Anzeige bringen - oder dich als direkt betroffene Person, zum Beispiel im Falle von Beleidigungen und Bedrohungen, bei weitere Schritten unterstützen.
Es wäre wichtig, dass sich aktive Menschen angesprochen und aufgefordert fühlen, in solchen Situationen einzuschreiten und auch online zivilcouragiert zu handeln.
Wenn ich Hate Speech in Kommentarspalten entdecke, die nicht gegen die jeweilige Netiquette (die von der Seitenadministrator:innen festgelegten Kommunikationsregeln) verstößt oder die Seitenmoderation Hate Speech einfach ignoriert, ist Gegenrede das geeignete Instrument. Positionieren, Kontern und Abwehren: Grenzen aufzeigen, Menschenfeindlichkeit benennen, deeskalieren und nachfragen, wie etwas gemeint ist, auf Kritik sachlich reagieren, wenn nötig, Quellen einfordern und Fakten checken. Positionieren gegen Menschenfeindlichkeit geht zum Beispiel so: „Dieser Aussage will ich entschieden widersprechen, sie ist in meinen Augen menschenfeindlich. Sehen das hier noch andere genauso?" Besonders wichtig ist es, die stillen Mitlesenden anzusprechen; sich Verbündete dazu zu holen und sich mit Betroffenen zu solidarisieren. Als Seitenmoderator:in sollte ich eine Netiquette als Grundlage der Moderationsarbeit nutzen, um Verstöße zu ahnden, problematische Inhalte zu löschen und Betroffenen zur Seite zu stehen. Die organisierte Zivilgesellschaft sollte darüber hinaus Solidarität herstellen und einfordern, wo keine da ist. Wir empfehlen in jedem Fall: Macht es öffentlich, wenn Kooperationspartner:innen online angefeindet und diffamiert werden! Bildet in solchen Fällen eine gemeinsame, demokratische Gegenöffentlichkeit und zeigt den Hater:innen, dass ihr zusammensteht! Online-Hass kann sehr belasten, Betroffene haben häufig das Gefühl, sie seien Schuld oder müssten dort alleine durch. Das ist nicht so! Hasskampagnen und Shitstorms muss niemand alleine durchstehen.
Wie kann die Sichtbarkeit progressiver Inhalte und Positionen gestärkt und Engagement & Beteiligung gefördert werden?
Antonia: Online und insbesondere in den Sozialen Netzwerken gibt es quasi unendlich viele Möglichkeiten sich kreativ auszutoben und eigene Inhalte und Themen zu setzen. Gleichzeitig sind immer noch häufig demokratie- und menschenfeindliche Narrative stark vertreten und verdrängen positive Gegenerzählungen. Umso wichtiger ist es, die demokratische und engagierte Zivilgesellschaft online sichtbar zu machen. Das kann zum Beispiel mit aktivierenden Posts gelingen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie Erstaunen oder ein Lachen auslösen, Menschen zum Grübeln anregen, ihnen neue Perspektiven eröffnen oder auch unterhalten. Vor einem Post lohnt es sich also immer zu fragen: Wo liegt aus Sicht der Lesenden jetzt der Mehrwert, sich mit dem Beitrag zu beschäftigen? Auch Interaktion, in Form von Likes, Kommentaren und Shares, spielt für die Sichtbarkeit eine wichtige Rolle. Seitenmoderator:innen können in der Kommentarspalte zur Diskussion animieren oder Anreize bieten, den Beitrag zu teilen. Dafür eignen sich zum Beispiel Sharepics, die ein klares Statement enthalten. Auch die Story-Funktion bei Instagram enthält viele Möglichkeiten, um Interaktion zu fördern. Wie wäre es mal mit einer Abstimmung oder einem Quiz zu den Inhalten eurer Organisation? Je mehr Reaktionen, desto höher die Reichweite. Darin können Organisationen sich auch gegenseitig unterstützen, indem sie die Beiträge anderer kommentieren oder teilen. Es ist außerdem sinnvoll, die Online- und Offline-Welt zusammenzudenken. Über Aufrufe in den Sozialen Netzwerken an Demonstrationen teilzunehmen oder Petitionen zu unterschreiben, können oft noch einmal deutlich mehr Menschen mobilisiert werden.
Ein Wahlkampf liegt hinter uns, der wesentlich mehr auch digital stattgefunden hat als zuvor. Welche Themensetzungen und Strategien von rechtspopulistischen und extrem rechten Parteien habt ihr im digitalen Raum beobachtet?
Antonia: Hinter ihrem verharmlosenden Wahlkampf-Slogan „Deutschland. Aber Normal.“ versteckte die AfD ein Programm, das geprägt ist von Verschwörungsideologien, Nationalismus, Diskriminierung und Rassismus. Die Partei versucht, einfache Antworten und Feindbilder für komplexe Fragen und Probleme zu bieten. Sie knüpft an verschwörungsideologische Milieus an, die besonders in den letzten anderthalb Jahren stark öffentlich präsent waren. Sie inszeniert sich im Wahlkampf als Protest- und Freiheitspartei. Das zeigte sich auch deutlich im digitalen Raum. AfD-Politiker:innen streuten gezielt Desinformation über andere Parteien. Insbesondere die Grünen waren in diesem Wahlkampf Ziel der Angriffe. Diese Strategien ließen sich in bestimmten Debatten gut beobachten: Während der Flutkatastrophe im Juli wetterten AfD-Politiker:innen gegen die Vereinnahmung für „Klimapropaganda“. Die AfD ist stark präsent in den Sozialen Medien. Die Partei setzte schon viel früher als viele andere auf die Interaktion mit potenziellen Anhänger:innen über die Sozialen Medien. Und ihre Strategien zeigen Wirkung: Zum Beispiel glauben laut einer repräsentativen Umfrage 28 Prozent der befragten Nutzer:innen, dass die Grünen Autofahren verbieten wollen. Kleinere rechtsextreme Parteien, wie der III. Weg oder die NPD, spielten im digitalen Raum im Wahlkampf keine erhebliche Rolle. Hier wurde eher auf lokale Bewerbung über Flugblätter und Infostände gesetzt. Teilweise knüpften die Parteien auch an Corona-Leugner:innen-Proteste an. Trotzdem tauchten einzelne Posts und Werbung beispielsweise in Facebook-Gruppen auf.
Hinter ihrem verharmlosenden Wahlkampf-Slogan „Deutschland. Aber Normal.“ versteckte die AfD ein Programm, das geprägt ist von Verschwörungsideologien, Nationalismus, Diskriminierung und Rassismus.
Als demokratische Gegenstrategie kann es sinnvoll sein einen Überblick zu behalten. Organisationen können ein Monitoring entwickeln, also Social-Media-Inhalte im Blick behalten, die für die eigenen Themen wichtig sind. Damit haben wir in der Vergangenheit gute Erfahrungen gemacht. So können über die eigenen Kanäle in den Sozialen Medien aktuelle Themen kritisch begleitet werden – egal ob Wahlkampf ist oder nicht. Zum Beispiel mit Beiträgen, die die rechtsextremen Strategien offenlegen oder klar Position gegen rechtsextreme Propaganda beziehen. Gerade in Wahlkampfzeiten spielt digitale Zivilcourage eine besondere Rolle. Wir haben ja oben schon mehrere Möglichkeiten angesprochen, wie mit Falschnachrichten oder Hetze umgegangen werden kann – das gilt insbesondere auch dann, wenn viele Menschen sich überlegen, welche Partei sie wählen? Zeigt euch solidarisch, wenn Menschengruppen, wie Geflüchtete, oder Organisationen zu Wahlkampfzwecken diffamiert werden. Oder diskutiert in Kommentarspalten, um auch Mitlesende mit Fakten die Strategien rechter Parteien aufzuzeigen. Und vor allem: Stellt demokratische Themen und inhaltliche Auseinandersetzung in den Vordergrund. Das passierte im letzten Wahlkampf leider noch viel zu selten.
Wie können besonders Moderator*innen von Social Media-Seiten auf Online-Angriffe reagieren und solidarisch handeln?
Teresa: Wie auch im empfehlenswerten Buch “Digitaler Faschismus” von Maik Fielitz und Holger Marcks (2020) sehr umfangreich erläutert, wirken Soziale Netzwerke durch die strategische und gezielte Nutzung rechtsextremer Akteure wie “digitale Brandbeschleuniger” für rechtsextreme Mobilisierungen und Wahlerfolge - oder für einen Anstieg rechter Gewalt im analogen Raum. Der Ton wird also nicht nur, wie vielfach betont, rauer, das gesamte Netzklima wird dadurch toxischer. Derzeit können wir beobachten, dass viele Nutzer:innen sich zunehmend aus Online-Debatten zurückziehen, aber auch, dass ihre aktive Teilhabe gezielt behindert wird. Das führt zu einer sogenannten “Schere im Kopf”. Das heißt, Nutzer:innen wägen genau ab, ob sie sich zu Themen äußern oder nicht. Wir reden hier über Stimmen und Perspektiven, die meist sowieso schon seltener in unserer Gesellschaft repräsentiert sind. Um diesem Rückzug entgegenzuwirken, spielen Seitenmoderator:innen eine entscheidende Rolle. Sie sollten dafür sorgen, dass auf ihren Seiten rechte, antidemokratische Äußerungen begrenzt und Menschenfeindlichkeit aktiv widersprochen wird. Es ist enorm wichtig, (potenziell) Betroffenen zur Seite zu stehen und sich mit ihnen zu solidarisieren. Bleiben Hasskommentare unbeachtet stehen, erfahren diese Inhalte eine Normalisierung. Gleichzeitig gebe ich meiner Community ein fatales Signal, nämlich, dass Hate Speech auf der eigenen Seite ignoriert - und eben nicht begrenzt wird. Es sollte aber Aufgabe einer guten Seitenmoderation sein, eine demokratische Debattenkultur herzustellen. Damit sich möglichst viele Perspektiven und Stimmen an Diskussionen beteiligen. Für ein erfolgreiches Community Management braucht es allerdings Ressourcen: vor allem Zeit, Personal und das nötige Know How. Hilfreich sind in jedem Fall eine gut ausgearbeitete Netiquette, die sichtbar und nachvollziehbar für die Community ist, ebenso ein Notfallplan für mögliche Shitstorms oder ein grundlegendes Moderations-Handbuch für alle Social Media-Verantwortlichen in der Organisation, das intern festlegt, wie moderiert wird oder wann Kommentare gelöscht, gemeldet oder angezeigt werden. Seit Anfang Juli 2021 ist ein neues Gesetz gegen Hasskriminalität und Rechtsextremismus in Kraft getreten.
Was erwartet Ihr Euch davon konkret?
Antonia: Juristische Schritte sind wichtig, keine Frage. Gesetze allein lösen aber nicht das zugrundeliegende Problem. Die meisten Kommentare und Posts, welche die Betroffenen erreichen, sind ohnehin von der Meinungsfreiheit gedeckt. Eine zögerliche Moderation und fehlender Widerspruch von allen User:innen begünstigen immer wieder eskalierende Kommentarspalten. Es braucht also mehr: verstärkte Medienbildung, Opferschutz und das Empowerment der von Hate Speech betroffenen Personen und Gruppen.
Vielen lieben Dank für das Gespräch!