Demokratie ist etwas Umkämpftes
Interview mit Doris Liebscher zu Demokratie und Antidiskriminierung
Was ist Ihr Verständnis von Demokratie und auf welchen Kontext beziehen Sie sich?
Ich beziehe mich auf einen modernen Demokratiebegriff, der zurückgeht auf die modernen bürgerlichen Revolutionen: die Französische Revolution, die Amerikanische Revolution und auch die Haitianische Revolution in der französischen Kolonie Saint-Domingue von 1791. Das Interessante an der Haitianischen Revolution ist, dass sich erstmals ausgegrenzte Gruppen, hier schwarze und versklavte Menschen, auf die Werte der Revolution 1789 in Frankreich bezogen haben, um gegen ihre Beherrschung durch die Franzosen vorzugehen. Hieran zeigt sich, dass von Anfang an marginalisierte Menschen mit Menschenrechten gearbeitet haben. Das heißt, es sind nicht nur Bürgerrechte. Folglich muss man nicht die Staatsbürgerschaft haben oder ein Mann sein, wie es damals der Fall war, sondern diese Rechte stehen allen Menschen zu.
Zum Zweiten verstehe ich Demokratie als etwas Umkämpftes. Auch das ergibt sich aus der Geschichte – es ist immer umkämpft gewesen, wer überhaupt an Entscheidungen teilhaben darf. Das ist bis heute so. Wenn wir zum Beispiel über die repräsentative Demokratie in Deutschland sprechen, dann sehen wir, dass viele Zehntausende Menschen vom demokratischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen sind. Zum Beispiel 80.000 deutsche Staatsangehörige, die unter einem Betreuungsvorbehalt stehen. Oder acht Millionen Menschen, die nicht wählen dürfen, weil sie keinen deutschen Pass haben, obwohl sie hier leben, arbeiten, Steuern zahlen und volljährig sind.
Demokratie ist eine Herrschaftsform und als solche immer auch kritisch auf Ausschlüsse zu hinterfragen.
Das führt uns zu verschiedenen Formen von Demokratie. Das vorherrschende Demokratieverständnis in der Bundesrepublik ist die repräsentative parlamentarische Demokratie. Das ist aber bei Weitem nicht das Einzige. Auch die direkte Demokratie, die in der Schweiz gelebt wird, oder die Rätedemokratie, für die sich zum Beispiel Hannah Arendt aussprach, sind Formen demokratischer Herrschaft. Das führt mich zum letzten Punkt: Demokratie ist eine Herrschaftsform und als solche immer auch kritisch auf Ausschlüsse zu hinterfragen.
Was hat Demokratie mit Antidiskriminierung zu tun?
Alles! Die Menschenrechte sind der materielle Kern moderner Demokratien. Unbestritten ist heute, dass die Menschenrechte Freiheit und Gleichheit aus dem Grundgesetz resultieren, dass jeder Mensch eine unveräußerliche Würde besitzt. Würde, Freiheit, Gleichheit bilden eine Trias: Würde steht allen Menschen qua ihres Menschseins zu. Um diese Würde zu leben, brauchen wir Freiheit. Und um diese Freiheit zu leben, brauchen wir Gleichheit. Da kommt es zu der Frage von Diskriminierung – was ist mit vergeschlechtlichen Verhältnissen, was ist mit rassistischen Verhältnissen, die es einigen Menschen – Frauen, Migrant*innen – schwerer als anderen machen, frei zu leben? Hier kommt Gleichheit ins Spiel. Der Antidiskriminierungsansatz als menschenrechtlicher Ansatz lenkt unser Augenmerk besonders auf das Ziel der gleichen Teilhabe an einer Gesellschaft angesichts ungleicher Ausgangsbedingungen. Aber Gleichheit kann man wiederum nur in Freiheit leben, dazu gehört auch die Freiheit, eine andere Meinung zu haben und diese auch zu äußern.
Was bedeutet dieses Demokratieverständnis in Bezug auf die Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus?
Die Rede von Links- und Rechtsextremismus verkürzt komplexe gesellschaftliche Verhältnisse auf ein einfaches „Mitte versus Links und Rechts – Schema“. Die wichtigste Prämisse des Extremismusansatzes lautet, dass „Rechts- und Linksextreme“ gleichermaßen die repräsentative parlamentarische Demokratie ablehnen. Deshalb seien beide im Ergebnis dasselbe Problem, weil sie der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ (FDGO) widersprechen würden. Die FDGO wird herangezogen, um zu bestimmen, wer verfassungsfeindlich ist und wer demokratisch ist. Die Bedeutung der Menschenrechte wird bei der Bestimmung der FDGO aber gern vergessen. Der materielle Gehalt der Demokratie tritt damit hinter ihren formellen Gehalt zurück. Als formelle Aspekte der Demokratie gelten u. a. Parlamentarismus, freie Wahlen, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte und ein Mehrparteiensystem. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum zweiten NPD-Verbotsverfahren vom Januar 2017 wird der menschenrechtliche Kern der „Freiheitlichen Demokratischen Ordnung“ dagegen sehr klar. Das Gericht hat die NPD für verfassungswidrig erklärt, weil sie ein rassistisches und antisemitisches Gesellschaftsmodell propagiert, das ist eine qualitative Bestimmung. Die Menschenrechte müssen bei der Bewertung von Positionen einbezogen werden, um zu bestimmen, wer verfassungsfeindlich und wer demokratisch ist.
Die Idee von einer gesellschaftlichen Mitte ist ein sehr normatives Modell.
Das Problem fängt aber eigentlich schon vor der Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus an. Die Idee von einer gesellschaftlichen Mitte ist ein sehr normatives Modell. Dabei wird nicht mitgedacht, dass zum Beispiel rassistische Einstellungen auch in Schichten vertreten werden, die sich selbst der Mitte zuordnen oder von der Extremismusforschung der Mitte zugeordnet werden. Gesellschaft funktioniert nicht so schematisch. Die schematische Einteilung in gute Demokraten auf der einen Seite und böse Extremisten auf der anderen Seite schließt aber nicht nur die Mitte von Kritik aus. Sie verhindert auch den qualitativen Streit darüber, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Das sah man gerade nach den G20-Protesten in Hamburg 2017 in Bezug auf die pauschale Heraufbeschwörung einer „linksextremistischen Bedrohung“. Da wurden plötzlich unsägliche Vergleiche zwischen gewaltförmigen Auseinandersetzungen mit der Polizei auf der einen Seite und Angriffen auf Geflüchtete auf der anderen Seite gezogen. Es wird auch nicht mehr qualitativ unterschieden, wie es zu Gewalt kommt (z. B. im Rahmen eines geplanten Überfalls auf eine Geflüchtetenunterkunft) und was es für Gewalt ist: Gewalt gegen Menschenleben oder Gewalt gegen Schaufensterscheiben. Die gesellschaftlichen Visionen und der qualitative Streit darüber geraten aus dem Blickfeld. Der undifferenzierte Ruf nach Law and Order schadet der Demokratie und befördert ein autoritäres Gesellschaftsverständnis.
Schließlich mangelt es dem Extremismusansatz an einer qualitativen Bestimmung von Gleichheit. Die Linken, so der Extremismusansatz, würden die Gleichheit überbewerten und die Rechten die Gleichheit komplett negieren. Was Gleichheit bedeutet, wird dabei gar nicht diskutiert. Gleichheit heißt aber nicht automatisch „Gleichmacherei“ oder „Gleichschaltung“. Es gibt ganz unterschiedliche Gleichheitsverständnisse und über die wird in einer Demokratie gestritten. Ein antidiskriminierungsrechtliches Verständnis von Gleichheit zielt auf die Ermöglichung gleicher Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und Ressourcen für alle unter Berücksichtigung unterschiedlicher individueller und sozialer Ausgangsbedingungen und Bedürfnissen. Gleichheit wird dann nicht überbewertet, sondern im Zusammenhang mit vielfältigen Machtverhältnissen bestimmt, die ein liberaler Ansatz ausblendet. Wer diese wichtige Kritik als extremistisch denunziert, schaltet kritisches Denken ab. Das führt analytisch und politisch in die Sackgasse.
Seit 2006 gibt es das bundesweite Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), umgangssprachlich auch Antidiskriminierungsgesetz genannt. Warum war es wichtig, dass dieses Gesetz eingeführt wurde?
Ein Antidiskriminierungsgesetz reagiert erstens auf die soziale Realität, die ich oben beschrieben habe. Sexistische, rassistische, homo- und transphobe oder behindertenfeindliche Stereotype gibt es nicht nur bei der organisierten extremen Rechten. Sie sind weit verbreitet. Daran anknüpfende Diskriminierungen kann man mit einem Ansatz, der Rassismus als etwas „Extremes“ oder als Relikt der Vergangenheit begreift, schlecht thematisieren und Thematisierung ist der erste Schritt zur Veränderung. Ein Antidiskriminierungsgesetz signalisiert der Gesellschaft: Diskriminierung kommt überall vor, aber wir als Gesellschaft wollen Betroffene von Diskriminierung schützen. Und zwar unabhängig davon, ob die Diskriminierung absichtlich erfolgte. Es geht also nicht (nur) um Hass, dafür ist das Strafrecht zuständig, sondern um alltägliche Benachteiligungen und Ausschlüsse.
Zweitens war die Einführung des AGG wichtig, weil sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union darauf geeinigt haben, die Antirassismus-Richtlinie umzusetzen, die die Frage von Diskriminierung unter Privatpersonen regelt. Seit 1976 gab es zudem schon Richtlinien zur Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt. Durch Artikel 3 des Grundgesetzes war Diskriminierung in Deutschland bereits seit 1949 verboten, jedoch nur, wenn der Staat diskriminiert. Rechtlich brauchen wir ein AGG, um gegen Diskriminierung zwischen Privaten vorgehen können. Das AGG hilft daher den Leuten, die von Kolleg*innen, Vermieter*innen, an der Discotür oder von Bankangestellten diskriminiert werden.
Drittens zeigt die Einführung des AGG, dass ausgegrenzte Gruppen in einer Demokratie Sichtbarkeit und Rechte erkämpfen können. In den USA erfolgte die Verankerung von Antidiskriminierung in den Gesetzen stärker von unten nach oben, durch die Proteste des Civil Rights Movements, die auch mit Verfassungsklagen arbeiteten. In Europa protestierten zuerst die Frauen. Die Einführung des Equal Pay Gesetzes in Großbritannien im Jahr 1970 geht zum Beispiel auf Frauenstreiks zurück. Die rechtliche Verankerung von Diskriminierungsschutz in Europa ging vom Recht zur Geschlechtergleichheit aus. Rassismus wurde erst später behandelt bzw. die Stimmen der von Rassismus Betroffenen wurden lange nicht gehört. Wenn man Antidiskriminierung heute in Zusammenhang mit Demokratie stellt, ist es wichtig zu betonen, es geht dabei immer auch um Kämpfe. Das fängt in den 1960er-Jahren an. Der Diskurs um Antidiskriminierung ist erst mit den sozialen Bewegungen stark geworden.
Was möchten Sie uns als Fach- und Netzwerkstellen für Demokratie und Vielfalt in den Berliner Bezirken mit auf den Weg geben?
Meine Erfahrung aus der Antidiskriminierungsarbeit in Leipzig ist, dass in Deutschland Streit und Dissens etwas sind, was nicht so hoch angesehen ist. Es wird – auch mit den Mitteln des Rechtes – sehr schnell auf Konsens gestellt. Das hat meines Erachtens auch etwas mit dem sehr formalen und staatshörigen Demokratieverständnis zu tun, das in Deutschland vorherrscht. Dem würde ich aus der Perspektive der Antidiskriminierungsarbeit gerne ein qualitatives Demokratieverständnis entgegenstellen, welches die Fragen stellt „Worum streiten wir eigentlich?“, „Wer darf mitstreiten?“ und natürlich „Was machen die Formen des Streits mit uns?“. Fach- und Netzwerkstellen, die demokratische Auseinandersetzung und Partizipation stärken und ausschließende diskriminierende Positionen zurückdrängen wollen, sollten deshalb stärker mit einem Antidiskriminierungsansatz arbeiten, der Teilhabegerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. Also ausgegrenzte Gruppen stärken, ihnen eine Stimme geben und ihre Perspektive ernst nehmen, aber nicht einfach sakrosankt unantastbar stellen, sondern sie gegebenenfalls auch kritisieren. Die Trias aus Würde, Freiheit und Gleichheit ist dafür besser geeignet als das Extremismusmodell.
Literatur
Doris Liebscher: Antidiskriminierungspolitik und Demokratieförderung. Impulsvortrag zu der Veranstaltung „Gleichbehandlung ist ihr gutes Recht!“ am 03.07.2017 anlässlich des 10jährigen Bestehens der Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung des Landes Berlin. Ist der online?
Doris Liebscher: Gleiche Rechte für marginalisierte Subjektpositionen? Probleme subjektiver Rechte im deutschen Antidiskriminierungsrecht. In: Rechtsphilosophie: Zeitschrift für Grundlagen des Rechts. München 2017. Sonderdruck.
Das Interview führten Lisa Gutsche und Berit Schröder.