Nachgefragt!
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#4

Dr. Heike Radvan ist Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin. Momentan ist sie Professorin für Methoden und Theorien Sozialer Arbeit an der BTU Cottbus. Zuvor war sie 15 Jahre lang in der Praxisforschung und Projektentwicklung in der Amadeu Antonio Stiftung tätig, unter anderem im Aufbau und der Leitung der Fachstelle Gender und Rechtsextremismus. Promoviert hat sie 2009 zum Thema „Pädagogisches Handeln und Antisemitismus“ an der FU Berlin. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte sind Rekonstruktive Sozialforschung, Pädagogisches Handeln und Antisemitismus, geschlechterreflektierende Rechtsextremismusprävention, Diversität in ländlichen Räumen der neuen Bundesländer, Interkulturelle Pädagogik, Antisemitismus in der DDR. Aktuell hat sie mit Esther Lehnert das Buch „Rechtsextreme Frauen – Analysen und Handlungsempfehlungen für Soziale Arbeit und Pädagogik“ (Opladen, 2016) veröffentlicht.

Bedrohung der Sozialen Arbeit durch Rechts­populismus

Interview Prof.*in Dr.*in Heike Radvan

An manchen Orten sind Rechtspopulist*innen die stärkste Kraft. Im nächsten Jahr stehen Landtags- und Kommunalwahlen in Brandenburg an. Wie ist das in der Stadt Cottbus und an der Universität, der Ausbildungsstätte für Soziale Arbeit, spürbar?

Einleitend würde ich sagen, dass es mit der AfD eine Partei gibt, die deutlich macht, dass Menschen unterschiedlich wert seien. Und das ist eine Grundlage rechtsextremer Ideologie. Da fängt es sprachlich an, die Unterscheidung in “WIR” und die “ANDEREN”. Das gab es vorher auch, allerdings würde ich sagen, dass es heute stärker wahrnehmbar ist. Die Grenzen des Sagbaren sind verschoben. Und das nehme ich vor allem in der Stadtgesellschaft wahr. Dass im öffentlichen Diskurs Äußerungen getätigt werden, die in der Massivität und Quantität von rechtspopulistischen, rassistischen, antisemitischen und antifeministischen Aussagen in dem Maße vorher so nicht da waren. Und sie bleiben im öffentlichen Raum oft unwidersprochen stehen. In Cottbus gab es die Situation, wo der RBB, ein öffentlich-rechtlicher Sender, zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion eingeladen hat. Hierzu wurden eine Landtagsabgeordnete der AfD, der Geschäftsführer von Zukunft Heimat - ein rechter Zusammenschluss von Pegida bis Kameradschaftsleuten - die Bildungsministerin des Landes, der Präsident der Universität und eine SPD-Abgeordnete eingeladen. Und dann passierte das, was schnell passieren kann, wenn, wie in diesem Fall, die Moderation nicht geschult ist und Rechten ein Podium gegeben wird. Rechtspopulistische, rassistische Aussagen wurden nicht gestoppt oder hinterfragt. Betroffene von Rassismus wurden instrumentalisiert oder kamen nicht zu Wort.

Sie haben auch junge Studierende, die aus ihren Praktika wiederkommen, von ihrem Arbeitsalltag, dem Träger und Team berichten. Wie schätzen Sie die Bedrohung der Sozialen Arbeit durch Rechtspopulismus ein?

Im Kontext dieser Podiumsdiskussion zeigt sich m. E. die Verantwortung auch Sozialer Arbeit. Denn es geht darum, einen öffentlichen und demokratischen Diskurs zu führen. Auch und gerade in der Stadtgesellschaft, nicht nur an Universitäten, sondern darauf hinzuwirken, dass bestimmte Standards im Diskurs eingehalten werden. Dazu würde für mich gehören, eine klare Haltung zu vertreten, dass man jemandem, der rechtspopulistische, rechtsextreme oder rassistische Positionen vertritt, nicht das Podium, nicht die Öffentlichkeit bietet und wenn solche Aussagen getätigt werden, sich dagegen zu positionieren, zu entgegnen. Aufgabe Sozialer Arbeit ist es auch, aufzuklären darüber, welche Rolle Rassismus und generell Ausgrenzungen und Diskriminierung haben, und diesen entgegenzuwirken, das heißt auch und vor allem, Betroffene zu stärken. Wenn man auf solch einer Podiumsdiskussion davon ausgeht, dass weiße Personen aussagefähig sind zu Rassismus und weiße Studierende nach ihren Erfahrungen fragt, dann hat man etwas nicht verstanden. Wer also grundsätzlich beteiligt werden sollte, sind people of color, Menschen mit Rassismus- und/oder anderen Diskriminierungserfahrungen. Es sollte nicht über sie geredet werden, sie sollten generell in alle Entscheidungssituationen einbezogen werden. Das bedeutet im Übrigen Demokratie. Grundsätzlich brauchen wir in der heutigen Situation eine wehrhafte Demokratie im Sinne von Karl Mannheim. Und da sind wir nicht, wenn wir auf Podien Leute einladen, die die Demokratie infrage stellen. Dann nenne ich das nicht wehrhaft. Denn Soziale Arbeit hat auch ein Wächter-Amt. Soziale Arbeit ist auf Antidiskriminierung verpflichtet, gerade wenn man sich die Selbstverpflichtung und die berufsethischen Standards anschaut. Soziale Arbeit, exemplarisch an der von mir genannten Podiumsdebatte, ist dafür verantwortlich, Räume aufzumachen, in denen nicht diskriminiert wird, wo nicht eine geflüchtete Person rassistisch beschimpft wird. Es braucht einen „Turn” der Verantwortungsübernahme. Aktuell lässt man die Dinge so laufen und geht davon aus, dass Demokratie heißt, wir reden mit allen. Das sehe ich als Missverständnis, im demokratischen Dialog verständigt man sich auf Standards wie gegenseitigen Respekt, Pflicht zur Wahrheit, keine Diskriminierungen oder Geschichtsrevisionismus, keine Hetze. Werden diese Standards unterlaufen – und erhalten feindliche, abwertende Stimmen Raum - ist das in der aktuellen Situation bereits eine Gefahr.

Aufgabe Sozialer Arbeit ist es auch, aufzuklären darüber, welche Rolle Rassismus und generell Ausgrenzungen und Diskriminierung haben und diesen entgegenzuwirken.

Die Frage nach Bedrohung, nehme ich auf ganz unterschiedlichen Ebenen wahr. In Cottbus gab es eine Situation, bei der öffentlich über zwei Übergriffe von Migrant*innen auf weiße Jugendliche berichtet wurde. In einem Fall zeigen Recherchen sehr deutlich, dass einem Angriff – der durch nichts zu entschuldigen oder relativieren ist – Provokationen und auch Gewalt von einheimischen weißen Jugendlichen vorausgegangen ist. Medien, aber auch Soziale Arbeit, haben die Verantwortung zu zeigen, wie die gesellschaftlichen Verläufe sind, damit diese Mythen von angeblicher Deutschenfeindlichkeit nicht dominieren. Aber genau das passierte hier. Es wurde nur noch davon geredet, dass migrantische Jugendliche angeblich mit Messern durch die Stadt laufen würden. Das eigentliche Problem ist aber anders gelagert: Alltagsrassismus, Rassismus und bodenständiger Rechtsextremismus. Und das wurde zu wenig im öffentlichen Diskurs benannt.

Wenn man in der gesamten Stadtgesellschaft eine Umfrage macht über Angstzonen, dann gibt es sehr viele einheimische, weiße Personen, die sagen: Ja, wir fühlen uns bedroht. Und wenn dem genauer nachgegangen wird, müssen wir darüber reden, was eigentlich Angst ist. Also wann fangen Projektionen und Mythen an, und wer wird eigentlich nicht gefragt? Und es muss benannt werden, wer im öffentlichen Raum begründeterweise Angst hat und haben muss. Die Statistik des Vereins Opferperspektive zeigt das sehr genau. Das sind geflüchtete Menschen oder Menschen, die nicht in ein rechtsextremes Weltbild reinpassen. Und das wird zu wenig thematisiert, das ist auch die Verantwortung von Sozialer Arbeit. Die Aufgabe Sozialer Arbeit im Sinne von Empowerment, Opferschutz etc. kommt hier eine besondere Bedeutung. Hier braucht es eine politisierte Soziale Arbeit, die für Betroffene ansprechbar ist. Auch für Studierende ist es wichtig zu lernen, dass es ihre Verantwortung und ihre Aufgabe ist, sich zu positionieren – nicht nur bei Gewalt, auch bei diskriminierende Aussagen - und das in jedem Fall.

Was würden Sie Kolleg*innen empfehlen, um sich für eine politische Soziale Arbeit einzusetzen und sich nicht von Neonazis und Rechtspopulist*innen einschüchtern zu lassen?

Das ist das, was wir seit den 90er-Jahren in verschiedenen Stadtgesellschaften immer wieder versucht haben. Wie kann man Städte, die eine Dominanz von rechtsextremen Personen, Diskursen, Atmosphären erleben, für demokratische Alltagskultur zurückgewinnen? Es hat zu aller erst mit der Gestaltung des öffentlichen Raums zu tun. An den Fachbereich Soziale Arbeit an der BTU Cottbus haben wir zum Beispiel eine Ausstellung vom Umbruch Bildarchiv eingeladen, die antirassistische Aktionen und Solidarität mit Betroffenen zeigt. Studierende sagen, dass es für sie einen Unterschied macht, dass diese Ausstellung in den Räumen der Universität hängt: Sie fühlen sich empowert, etwas gegen Rassismus oder auch Sexismus zu sagen, Aussagen, die auch in Lehrveranstaltungen getätigt werden.

In der Frage, wie Stadtgesellschaft verändert werden kann, ist es einer der ersten Punkte, eine offene, demokratische Atmosphäre zu schaffen. Das wird einerseits möglich durch Ausstellungen, Veranstaltungen, Lesungen, Diskussionen, Interviews mit demokratischen Lokalpolitiker*innen, Betroffene sprechen lassen. Gerade in Cottbus zeigt sich, dass Betroffene der rechten rassistischen Gewalt bislang öffentlich kaum zu Wort gekommen sind. Wenn demokratische Stimmen Raum haben, fühlen sich andere Personen bestärkt. Das kann man spüren. Eine Problematisierung und eine klare Positionierung machen einen Unterschied. Demokratische Personen gehen anschließend selbstbewusster durch die Straße.

Ich empfehle eine Hausordnung oder ein demokratisches Leitbild für die Einrichtung zu schreiben.

Zudem müssen Bürgermeister*innen, Verwaltung, Lokalpresse, kleine Unternehmen, Café-Besitzer*innen in die Verantwortung gehen, z. B. den öffentlichen Diskurs beeinflussen oder anderweitig tätig werden. Das betrifft auch Projekte Sozialer Arbeit: Familienzentren, Nachbarschaftshäuser, Kitas, Schulen etc. Sie können den öffentlichen Raum mitgestalten. Eine zweite Ebene ist immer die Sensibilisierung politischer Verantwortlicher, demokratischer Parteien. Es ist wichtig, demokratische Zivilgesellschaft zu fördern, sodass eine Vielfalt an Projekten entsteht bzw. lebensfähig ist und den Alltag gestalten kann. Das betrifft Themen wie interkulturelle Öffnung von Institutionen aber auch Sensibilisierung von Polizei.

Wir fragen uns natürlich auch immer, wer die Träger der demokratischen Stadtgesellschaft sind. Und hier zeigt sich, dass das die Einrichtungen und ihre Träger sind, die zunehmend durch Anfragen in den Bezirken oder im Abgeordnetenhaus durch Rechtspopulist*innen thematisiert wurden. Was empfehlen Sie den betroffenen Einrichtungen oder Trägern, wie sie auf parlamentarische Bedrohungssituation reagieren können?

Verschiedenstes. Zu allererst braucht es eine Solidarität mit demokratischen Projekten vonseiten der Politik und Verwaltung. So gab es beispielsweise migrantische Einrichtungen, die damit unter Druck gesetzt wurden, dass eine AfD-Abgeordnete zu Besuch kommen wollte und ihre Arbeit begutachten. Wenn Verwaltung hier nicht in der Lage ist, zu schützen und sich zu positionieren, haben wir ein Problem. Äußerst schwierig wird es, wenn dem betreffenden Verein implizit damit gedroht wird, die Finanzierung zu kürzen, wenn die Abgeordnete nicht reingelassen wird. Das ist natürlich ungeheuerlich. Infolgedessen sollte im Sinne der wehrhaften Demokratie das Neutralitätsgebot überdacht und überarbeitet werden. Das betrifft auch die Verwaltung. Wir müssen gesellschaftlich darüber diskutieren, was heißt Demokratie? Und wo müssen wir auch Räume verteidigen? Es gibt ja eine Schutzfunktion gegenüber Projekten.

Und das andere ist, dass die demokratischen Abgeordneten ja tagtäglich mit diesen unsäglichen Anfragen umgehen müssen. Wir brauchen hierbei eine stärkere Koalition mit und unter den demokratischen Vertreter*innen. Es braucht klare Absprachen, Positionierung. Es braucht eine klare Linie, wie mit den Anfragen rechtspopulistischer Abgeordneter umgegangen wird. Es muss verteidigt werden, was Demokratie und Menschenrechte heißt. Die AfD vertritt Positionen gegen die Demokratie und diese müssen klar benannt werden.

Was würden Sie Einrichtungen raten, wie sie mit Anfragen, bspw. zur Besichtigung der Räume, durch Rechtspopulist*innen umgehen sollen?

Im empfehle eine Hausordnung oder ein demokratisches Leitbild für Einrichtungen zu schreiben. Fast alle Vereine haben ein Leitbild, aber damit es demokratisch oder auch potenziell ein wehrhaftes Leitbild beschreibt, braucht es konkrete Formulierungen. Ich würde ganz konkret schreiben, was ein demokratisches Miteinander bedeutet und wann demokratische Standards nicht mehr gegeben sind. Was macht rechtsextreme Ideologie aus, wann hat eine Aussage einen rassistischen Charakter? In einem Leitbild sollten auch die verschiedenen Diskriminierungs- und Herrschaftsformen benannt werden.

Wenn ich Räume vermiete, habe ich einen Mietvertrag. Damit müssen sich die Mieter*innen auch diesem Leitbild verpflichten. Wenn dann erkenntlich ist, dass die AfD die Räume mieten möchte, schließt sich das qua Leitbild aus. Man muss dann in der Lage sein nachzuweisen, dass die AfD sich undemokratisch äußert. Das sollte anhand aktueller Beispiele kein Problem sein. Wenn es für mich nicht ganz ersichtlich ist, würde ich mir durch Mobile Beratungsteams Beratung holen. Im Zweifelsfall ist es auch möglich, das Hausrecht zu nutzen. Wenn jemand die demokratischen Standards verlässt - diskriminiert, hetzt etc. – ist es möglich, ihn des Raumes zu verweisen, wenn das vor Veranstaltungen sicht- oder hörbar geklärt wurde. Im Zweifelsfall lassen sich Einrichtungen und betroffene Personen schützen, indem Rechtspopulist*innen des Raumes verwiesen werden mit Verweis auf den Schutz vor Diskriminierung, der im Hausrecht und/oder demokratischen Leitbild der Einrichtung verbrieft sein sollte. Auch wenn Ausschluss keine legitime Antwort in einer Demokratie ist, wollen gerade Rechtspopulist*innen Demokratie abschaffen. Und zu aller erst ist Soziale Arbeit für die Betroffenen von Diskriminierung und Gewalt da. Es braucht somit eine Differenzierung und eine klare Haltung. In der aktuellen Situation müssen wir uns stärker positionieren.

Positionierung ist ein gutes Stichwort. Vor Kurzem gab es eine Erklärung von Berliner Trägern für Menschenrechte und eine demokratische Kultur. Viele Träger der Sozialen Arbeit wollen proaktiv werden. Welche Möglichkeiten sehen Sie hier?

Im Prinzip ist in der Sozialen Arbeit alles da: die berufsethischen Standards mit der Menschenrechtsorientierung. Die Gesetzesgrundlagen geben eigentlich alles her. Aber man muss sie auch wahrnehmen. In der einzelnen Einrichtung oder beim Träger kann ein Leitbild helfen. Dieser Prozess hilft in der Auseinandersetzung. Aber es schützt nicht davor, dass es zu diskriminierenden Äußerungen im Team kommt. Da müssen wir intervenieren und nachfragen. Wir müssen uns alle fit machen, um reagieren zu können. Denn oft sitze ich in Gremien, Beiräten etc. und es werden Aussagen getätigt und keine*r reagiert. Rechtspopulismus ist ein Spiegel der Gesellschaft. Wir müssen uns fragen, wo fängt das an und worin besteht meine Verantwortung, schließlich geht es uns alle an.

Das Interview führten Andreas Ziehl und Marcel Dieckmann im Juni 2018 mit fachlicher Unterstützung durch Emily Jones und Magdalena Kronberger (Studierende an der ASH Berlin).

Dr. Heike Radvan ist Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin. Momentan ist sie Professorin für Methoden und Theorien Sozialer Arbeit an der BTU Cottbus. Zuvor war sie 15 Jahre lang in der Praxisforschung und Projektentwicklung in der Amadeu Antonio Stiftung tätig, unter anderem im Aufbau und der Leitung der Fachstelle Gender und Rechtsextremismus. Promoviert hat sie 2009 zum Thema „Pädagogisches Handeln und Antisemitismus“ an der FU Berlin. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte sind Rekonstruktive Sozialforschung, Pädagogisches Handeln und Antisemitismus, geschlechterreflektierende Rechtsextremismusprävention, Diversität in ländlichen Räumen der neuen Bundesländer, Interkulturelle Pädagogik, Antisemitismus in der DDR. Aktuell hat sie mit Esther Lehnert das Buch „Rechtsextreme Frauen – Analysen und Handlungsempfehlungen für Soziale Arbeit und Pädagogik“ (Opladen, 2016) veröffentlicht.

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